Gegeneinander statt miteinander?

Politikverdrossenheit in BW: "Keiner hat mehr das Vertrauen in unsere Politiker"

Stand
Autor/in
Samantha Ngako
SWR-Redakteurin Samantha Ngako

Peter Wurzer war Polizist und als solcher auch Personenschützer. Er hätte sich früher vor Politiker gestellt und sein Leben gegeben. Heute könnte er diesen Job nicht mehr machen.

Vor der Bundestagswahl haben wir die Nutzerinnen und Nutzer von SWR Aktuell Baden-Württemberg gefragt, welche Themen sie beschäftigen. Daraufhin hat sich auch Peter Wurzer aus Denkendorf (Kreis Esslingen) bei uns gemeldet. "Warum sind die meisten Bürger von der Politik und den Politikern, egal welcher Partei, enttäuscht?", fragt sich Wurzer - früher Polizist, heute Pensionär. Als ehemaliger Personenschützer bringt er das Thema Politikverdrossenheit auf seine eigene Art auf den Punkt:

Ich bin jetzt 66 Jahre alt und habe an jeder Wahl teilgenommen. Ich war 35 Jahre Polizeibeamter in BW, davon war ich fünf Jahre (1980 bis 1985) beim Personenschutz und habe mich in dieser Zeit auch um den Schutz von Politikern gekümmert. Ich hatte die Ehre, u. a. Willy Brandt, Helmut Schmidt und Lothar Späth kennen lernen zu dürfen. Das waren noch Politiker, denen man ihre 'Arbeit für das Volk' abgenommen hat. Ich hätte mich damals zu jeder Zeit bei einem Angriff/Anschlag schützend vor diese Politiker gestellt, wie es meine Aufgabe auch erfordert hätte. Bei den heutigen Politikern (der letzten 20 Jahre) wäre dies sicher nicht der Fall. Ich würde mich wahrscheinlich eher hinter sie stellen.

Wurzer könnte heutzutage kein Personenschützer mehr sein, erzählt er im Gespräch mit dem SWR. Denn mit der aktuellen Regierung ist er nicht zufrieden. "Das ist ja Kindergarten, was die da abliefern", sagt er und schließt dabei keine Partei aus. Er ist der Meinung, dass die Politiker heutzutage nur noch reagieren und nicht mehr agieren. Seiner Meinung nach war das früher anders. Den Politikern, die er früher geschützt hat, habe er noch abgenommen, was sie gesagt haben. Lothar Späth (CDU) zum Beispiel habe er damals geglaubt, dass er die Arbeit für das Land mache, nicht für sich. Das sei für ihn der Unterschied zu heute.

Peter Wurzer, Polizist in Uniform
Wurzer 2009 nach dem NATO-Gipfel in Baden-Baden, wo er Hillary Clinton geschützt hat. Mit Politikern wie Späth hatte er Anfang der 80er-Jahre im Wahlkampf zu tun. Sonst sei er - es war die RAF-Zeit - zuständig gewesen für den Schutz der Richter des Oberlandesgerichts, die die Stammheim-Prozesse gemacht haben.

Es gibt ja immer den Spruch bei den Politikern: Erst das Land, dann die Partei, dann die Person. Heute behaupte ich mal, ist es andersrum: Erst die Person, dann kommt die Partei und irgendwann kommt unser Land. Ich nehme es ihnen einfach nicht ab, ihre Wahlparolen.

Mangelndes Vertrauen in Politikerinnen und Politiker

Wurzer sagt, die Politikverdrossenheit sei riesig, wenn er sich im Bekanntenkreis umhöre. "Das sind alles gestandene Leut', zum Teil Firmenbesitzer, Freischaffende. Da hat jeder die gleiche Meinung: Keiner hat mehr das Vertrauen in unsere Politiker."

Im ARD-DeutschlandTREND Januar 2025 hat sich infratest dimap mit der Politikerzufriedenheit beschäftigt. Diese ist hier auch im Zeitverlauf zu sehen.

Mit Lothar Späth hatte Wurzer öfter zu tun. "Mit dem haben wir Karten gespielt als Personenschützer. Wenn man ihm in diesem Rahmen irgendein Problem gesagt hat, da hat er sich tatsächlich drum gekümmert, das sag ich ihnen wie es ist. Da hat man vier Wochen später einen Anruf von seinem Büro bekommen. Ich behaupte für mich, die waren einfach noch näher an den Leuten dran."

Sind Politikerinnen und Politiker nicht mehr nah genug am Bürger?

Waren die Politikerinnen und Politiker früher tatsächlich näher an den Menschen dran, als es heute der Fall ist? Wir fragen Angelika Vetter. Sie ist außerplanmäßige Professorin für Sozialwissenschaften an der Universität Stuttgart. Vetter erklärt sich diesen Eindruck so: "In den 50er-, 60er-, 70er-Jahren hatten wir, auch mit den großen Volksparteien, aber auch mit der Struktur der Gesellschaft, noch eine viel einfachere Bindung der Parteien an bestimmte Gruppen in der Gesellschaft. Weil diese Gruppen ganz deutlich sichtbar waren, weil ihre Interessen homogen und erkennbar waren und dann auch entsprechend von den politischen Parteien im politischen System repräsentiert werden konnten."

Sozialwissenschaftlerin Angelika Vetter
Angelika Vetter ist außerplanmäßige Professorin für Sozialwissenschaften an der Universität Stuttgart und forscht unter anderem zu Wahlen und Bürgerbeteiligung.

Heute, so die Sozialwissenschaftlerin, sei die Gesellschaft viel heterogener. Und es werde immer schwieriger für die Parteien, "diese Interessen zu bündeln und dann zu repräsentieren". Dazu kommt: Das Parteiensystem ist größer geworden als in den 60er- und 70er-Jahren. "Damals hatten wir die CDU/CSU, die SPD und dazwischen die kleine FDP. Aktuell sitzen sechs Fraktionen im Deutschen Bundestag. Wir haben damit ein wesentlich vielfältigeres Spektrum." Dadurch könnten Bürgerinnen und Bürger zumindest theoretisch viel eher eine Partei finden, mit der sie sich identifizieren und die sie dann wählen, so Vetter.

Politikverdrossenheit: Mehr miteinander statt gegeneinander?

In vielen Nachrichten, die bei SWR Aktuell BW auf den Aufruf hin eingingen, beschäftigte die Menschen die Art und Weise, wie Politikerinnen und Politiker miteinander umgehen. Wilhelm Birkle aus Bisingen schrieb zum Beispiel: "Es darf nicht mehr wie im Kindergarten sein! Es muss wie bei einer Betriebsführung sein oder intakten Familie! Kein Parteidenken, die Politiker sind Angestellte der Wähler und haben das Volk zu vertreten." In die ähnliche Richtung denkt zum Beispiel auch Hans-Jürgen Raps aus Adelmannsfelden. Er schreibt uns: "Warum führen sich die Politiker immer auf wie kleine Kinder im Kindergarten." Raps ist dafür, "gemeinsam nach Lösungen der politischen Probleme zu suchen und dann diese sehr zügig umzusetzen".

Und auch Michael Franke aus Vaihingen erwartet von der künftigen Bundesregierung, "dass sie sich gefühlt weniger mit sich selbst beschäftigen, sondern mehr mit den Menschen und Problemen im Land". Angela Hoffmann aus Waiblingen ist der Meinung, dass sich die Parteien "nicht nur gegenseitig beschuldigen, beschimpfen und verunglimpfen" sollten. "Diese Beschimpfungen sind unwürdig für so studierte Menschen, die schließlich gewählt wurden, um es besser zu mache", so Hoffmann. Mehr miteinander statt gegeneinander also - hat sich da etwas verändert in der politischen Debattenkultur?

Miteinander und nicht Gegeneinander. Einfach wieder mit Herz, Hirn und Verstand entscheiden, dann geht's auch wieder aufwärts!

Vetter: "Da ging es auch nicht friedlich zu"

Sozialwissenschaftlerin Vetter denkt zurück an die 50er- bis 70er-Jahre. "Als wir Politiker wie Wehner oder Strauß hatten. Da ging es auch nicht friedlich zu. Politik bedeutet - und das ist vielen Menschen eher unangenehm - dass verschiedene Interessen in der Gesellschaft vermittelt über die politischen Parteien miteinander im Wettstreit stehen. Die Parteien müssen untereinander Mehrheiten finden, um Entscheidungen zu treffen. Dazu gehört auch das Aushandeln von Kompromissen."

Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger kann die Politik nach Ansicht der Sozialwissenschaftlerin zurückgewinnen, indem sie Themen anpackt, die die Menschen beschäftigen: Klima, Wirtschaft, außenpolitische Themen, Bürokratieabbau zum Beispiel. So könne die Zufriedenheit zunehmen.

Vetter: "Populistische Demokratievorstellung, die aber nicht der Realität entspricht"

"Warum ist es für deutsche Politiker so schwer, Politik für das eigene Volk zu machen?" Das fragen sich einige Leser. Auch darauf hat Sozialwissenschaftlerin Vetter eine Antwort. Sie betont: "Es gibt in unserer Gesellschaft unterschiedliche Vorstellungen davon, was wichtig und richtig ist." Dementsprechend gebe es auch nicht "die eine" Politik für die Menschen. "Die Parteien vertreten eben diese verschiedenen Interessen. Genau das macht unsere liberale und pluralistische Demokratie aus", so Vetter. Und dann müsse man aushandeln, welche Interessen Mehrheiten finden. Die Erwartung, dass eine einzige Politik gibt, die dem Gemeinwohl entspricht, ist in ihren Augen "eine populistische Demokratievorstellung", die aber nicht der Realität entspreche.

Diese Parteien- und Politikerverdrossenheit ist für uns Wissenschaftler nichts Neues. 1992 war das Wort 'Politikverdrossenheit' bereits Wort des Jahres. Selbst wenn wir in der Zeit noch weiter zurückgehen, messen wir in Umfragen ein generelles Politiker- und Parteienmisstrauen. Aktuell ist die Situation dennoch herausfordernder als zu anderen Zeiten: Normalerweise sind besonders die Anhänger der Oppositionsparteien unzufrieden mit der Politik. Aktuell sind aber auch viele Anhänger der Ampel-Parteien unzufrieden, was unter anderem mit der Performanz der 'letzten' Regierung zu tun hat. Man muss aber auch konstatieren, dass die aktuellen Probleme, die von der Politik zu lösen sind, große Herausforderungen darstellen. Seien es Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung, des Klimas oder der Sicherheit Deutschlands.

Wählen nun viele nicht, weil sie unzufrieden sind?

Dass viele Menschen nicht wählen, weil sie unzufrieden sind, ist zumindest rückblickend kein Thema. Bei der vergangenen Bundestagswahl im Jahr 2021 lag die Wahlbeteiligung bei 76,6 Prozent. Vetter betont, dass es 2009 noch 70,8 Prozent waren. "Wir haben im Moment kein Problem mit der Wahlbeteiligung. Diese ist in den letzten zehn Jahren viel mehr gestiegen. Egal welche Wahlen sie sich ansehen: Wir haben eine starke Mobilisierung und eben nicht eine Demobilisierung."

Auch für den früheren Polizisten und Personenschützer Peter Wurzer ist es selbstverständlich, am 23. Februar wählen zu gehen. Er habe nur das Vertrauen in die jetzigen Politiker, nicht in die Politik allgemein oder die Demokratie verloren. Doch die Unzufriedenheit mit der Politik macht ihm die Wahl schwer: "Ich weiß noch nicht, wen ich wähle. Das ist wirklich seit Jahren das erste Mal, dass ich mir überlege: 'Wen wählt man?'."

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