Der Bundesrat hat am Freitag im zweiten Anlauf dem Bürgergeld zugestimmt. Zuvor hatten CDU/CSU und die Ampelparteien im Vermittlungsausschuss einen Kompromiss erarbeitet. Damit kann der Hartz-IV-Nachfolger im neuen Jahr also kommen.
BW: 430.000 Menschen Hartz-IV-Empfänger
Für die Betroffenen werden damit unter anderem die monatlichen Zahlungen ab Jahresanfang deutlich erhöht. Ein alleinstehender Erwachsener bekommt dann monatlich 502 Euro und damit 53 Euro mehr als bisher. Auch Paare und Kinder erhalten mehr Geld. Laut dem SPD-geführten Bundesministerium für Arbeit und Soziales betrifft die Sozialreform mehr als fünf Millionen Menschen bundesweit, die bislang Grundsicherung, Sozialgeld oder Hartz IV bekamen - oder knappes Gehalt und niedrige Rente aufstockten. In Baden-Württemberg waren das 2020 rund 428.000 Menschen.
Einer von ihnen hat mit dem SWR darüber gesprochen, wie er das Bürgergeld beurteilt - und über die hitzige öffentliche Debatte, die dem Kompromiss voraus ging. Michael Leutkirch aus Stuttgart ist armutsbetroffen. Hier erzählt er, wie er die Debatte erlebt hat:
Protokoll: Michael Leutkirch erzählt
Michael Leutkirch: "Ich habe mich nicht darüber geärgert, dass eine Mehrheit der Menschen das Bürgergeld abgelehnt hat. In der Zwischenzeit bin ich über dieses Stadium hinaus.
In meiner Twitter-Biografie steht #IchBinArmutsbetroffen. Ich werde deshalb regelmäßig angefeindet. Regelmäßig versuche ich, mit Fakten dagegen zu argumentieren. Aber manche Leute wollen es nicht besser wissen. Sie sind der Meinung, dass jeder, der Sozialleistungen bezieht, einfach zu faul sei zum Arbeiten, dem Staat auf der Tasche liegen möchte. Dieses Bild des Sozialschmarotzers wollten viele in der aktuellen Debatte wahrscheinlich bestätigt sehen.
Bürgergeld mit zwei Porsche und 150.000 Euro?
Mich hat sehr verwundert, dass unsere Politiker teilweise mit offensichtlichen Falschinformationen in die Diskussion gingen. Wenn die führenden Köpfe Informationen in die Welt hinausposaunen, die bei genauerer Betrachtung wenig mit der Realität zu tun haben, kommen Meinungen in die Welt, über die ich nur den Kopf schütteln kann. Da ist eine Scheindebatte entstanden um irgendwelche Hartz-IV-Empfänger, die es in der Realität einfach nicht gibt.
Das absurdeste Beispiel, das mir im Gedächtnis geblieben ist, war eine fiktive Familie mit großem Haus, zwei Porsche und einem Vermögen von 150.000 Euro auf der hohen Kante, die Bürgergeld beziehen würden. Die Zahl derer, auf die das zutrifft, die würde mich wirklich mal interessieren.
Auch die Diskussion um das Lohnabstandgebot fand ich so verlogen. Die war eigentlich das Schlimmste an der ganzen Debatte: Man hat tatsächlich darüber nachgedacht, Leuten, die auf Hilfe angewiesen sind, noch weniger für ihren Lebensunterhalt zuzugestehen. Und alles nur, damit der Abstand zu den niedrigen Löhnen nicht zu klein wird.
Noch weniger als das Minimum zu haben, ist schlicht kein menschenwürdiges Leben mehr. Mit diesem Minimum kann man ja ohnehin nicht richtig leben. Das sagen die Sozialverbände unisono in ganz Deutschland.
Kein Mensch würde Arbeit für Sozialleistungen aufgeben
Alle, die ich kenne, die es aus dem Sozialleistungsbezug herausgeschafft haben, würden alles tun, um nicht wieder in den Bezug zurückzukehren. Egal was.
Das zu behaupten, ist schon fast boshaft. Kein Mensch, der jemals auf Sozialleistungen angewiesen war, würde das freiwillig machen.
Das Bürgergeld ist ein guter Anfang
Ich sag‘ es mal so: Das Bürgergeld in der jetzigen Form ist ein guter Anfang. Aber die Anhebung des Regelsatzes um 53 Euro ist schlicht und ergreifend zu gering. Das ist ja noch nicht einmal der Inflationsausgleich. Laut dem Sozialverband der Paritätische müsste das Bürgergeld für eine Einzelperson eigentlich bei 725 Euro liegen. Und von diesem Betrag sind wir immer noch meilenweit entfernt.
Was mir aber sehr gut gefällt, ist die Anhebung der Zuverdienstmöglichkeiten. Wenn ich zum Beispiel an meine Tochter denke, die gerade ihre Ausbildung macht: Von ihrem Ausbildungsgehalt von um die 900 Euro bleiben ihr aktuell 180 Euro, weil sie hier zur Bedarfsgemeinschaft gehört. Grob gesagt hat sie nichts davon, dass sie arbeitet. In Zukunft darf sie 450 Euro als Freibetrag behalten. Das ist ein echter Anreiz, eine Ausbildung zu machen. Das wird vielen helfen.
Endlich mal die Umsetzung dieses Förderns und Forderns
In diese Richtung geht es auch bei Fortbildungen. Man soll seinen Regelsatz pro Monat um zwischen 75 und 150 Euro aufstocken können, wenn man eine Fortbildung erfolgreich absolviert. Das ist in meinen Augen endlich mal die Umsetzung dieses Förderns und Forderns.
Sanktionsfreie sechs Monate wären ein guter Schritt gewesen
Was mich dagegen negativ stimmt, sind die Sanktionen. Die bleiben weiter von Anfang an möglich. Also beginnt der erste Brief vom Jobcenter weiter mit einer Drohung. So entsteht kein Verhältnis, auf dem eine anständige Zusammenarbeit zustandekommen kann. Die ersten sechs Monate sanktionsfrei zu gestalten, wäre ein guter erster Schritt gewesen. So hätte man überprüfen können, ob das bestehende Sanktionssystem denn tatsächlich etwas bringt. Einfach mal testen, wie die Leute ohne Sanktionsdrohung miteinander arbeiten.
Die große Sozialreform ist das Bürgergeld in seiner jetzigen Form für mich definitiv nicht geworden. Was mir fehlt, ist zum Beispiel die Kindergrundsicherung. Aktuell wird Sozialleistungsempfängern das Kindergeld, das eigentlich ihren Kindern zu Gute kommen sollte, einfach an anderer Stelle wieder angerechnet und damit abgezogen.
Es muss also noch viel passieren. Das Bürgergeld ist aber ein guter erster Schritt. Ich hoffe, dass auf diesem Weg auch weitergegangen wird."
Protokoll von Marc-Julien Heinsch