Arzt kritisiert Schließung

Interview zu Notfallpraxen: "Ich hatte 100 Patienten in 7 Stunden"

Stand
Autor/in
Samantha Ngako
Redakteurin Samantha Ngako im Portrait
Das Interview führte
Samantha Ngako

Gerhard Erchinger war Hausarzt und arbeitete zudem in der Notfallpraxis in Backnang. Nach der angekündigten Schließung weiterer 18 Notfallpraxen in BW fragt er sich, wo die Leute künftig betreut werden - und hat einen Alternativvorschlag.

Notfallpraxen in Baden-Württemberg sollen geschlossen werden. Das wird von vielen Seiten heftig kritisiert. Auch von Gerhard Erchinger. Er hat fast 34 Jahre lang als Hausarzt-Internist in Murrhardt im Rems-Murr-Kreis gearbeitet. Heutzutage ist der Arzt in Rente. Auch im Ruhestand war er als Poolarzt in der Notfallpraxis in Backnang tätig. Sein letzter Arbeitstag dort war im Oktober 2022 - bevor ein Urteil fiel, durch das er nicht mehr als Poolarzt arbeiten konnte, obwohl er es gerne noch gemacht hätte. Erchinger hatte sich in der Kommentar-Funktion bei SWR Aktuell Baden-Württemberg zum Aus der Notfallpraxen geäußert. Daraufhin hat sich die Redaktion mit dem 78-Jährigen unterhalten.

SWR Aktuell: 18 Notfallpraxen in Baden-Württemberg sollen geschlossen werden. Davon wären offenbar rund 90.000 Patienten betroffen. Wo werden diese Menschen dann aufgefangen, Herr Erchinger?

Gerhard Erchinger: Ich denke, da bleiben dann nur die Krankenhäuser, an denen auch schon Notfallpraxen angesiedelt sind, oder eröffnet werden. Die von niedergelassenen Ärzten, beziehungsweise von der KV (Anmerkung der Redaktion: Kassenärztliche Vereinigung) betrieben werden. Beziehungsweise an den eigenen Notfallpraxen der Krankenhäuser, das läuft häufig parallel. Und wer entscheidet, wer wo hingeht - das ist häufig auch eine Entscheidung des Patienten selbst. Wahrscheinlich wird er dorthin gehen, wo er am schnellsten behandelt wird.

SWR Aktuell: Sie haben fast 34 Jahre lang als Hausarzt-Internist in Murrhardt gearbeitet. Wie sah ihre zusätzliche Tätigkeit in der Notfallpraxis in Backnang aus?

Erchinger: Die KV verpflichtet alle niedergelassenen Ärzte, am Notfalldienst teilzunehmen. Wenn ich dieser Pflicht nicht nachkommen wollte, wäre es meine Aufgabe gewesen, für eine Vertretung zu sorgen. Zu meinen besten Zeiten war ich rund zehn Mal im Jahr in der Notfallpraxis in Backnang im Einsatz. Ab und zu am Wochenende, von 8 bis 22 Uhr, oder von 8 bis 15 Uhr. Öfters habe ich auch sogenannte Fahrdienste gemacht, mit meinem eigenen Fahrzeug. Dann hat mich jemand verständigt, zum Beispiel wenn sich jemand bei der 116 117 gemeldet hat. Ich bin dann zu den Leuten nach Hause gefahren.

SWR Aktuell: Das war während der Zeit, in der sie eine Praxis hatten. Später, im Ruhestand, arbeiteten Sie als sogenannter Poolarzt in der Notfallpraxis in Backnang. Was ist genau ein Poolarzt?

Erchinger: Poolärzte sind Ärzte, die nicht niedergelassen sind, also keine Kassenzulassung haben. Sie haben sich bereiterklärt, Dienste, die die KV Baden-Württemberg zur Verfügung stellt, zu übernehmen. Und wir wurden bezahlt mit 50 Euro die Stunde. Das wurde so ausbezahlt. Entweder sind es Ärzte im Ruhestand, oder es gibt tatsächlich auch Ärzte, die ein bisschen früher aufgehört haben mit ihrer Praxis, um sich die Arbeit selbst einteilen zu können und die Bürokratie vom Hals zu haben. Oder es gab sogar Krankenhausärzte, die das ganz gerne noch gemacht haben. Was mich wundert, weil es immer heißt, die seien alle so überlastet.

Dr. Gerhard Erchinger
Dr. Gerhard Erchinger

SWR Aktuell: Haben sie diese Dienste in der Notfallpraxis als Belastung empfunden, als sie noch niedergelassener Arzt waren?

Erchinger: Ich fand es einfach notwendig, sowas muss einfach sein. Wenn man Arzt wird, Krankenschwester, oder -pfleger - dann weiß man eigentlich, dass solche Dienste notwendig sind. Sonst kann man das nicht machen. Ich verstehe nicht so ganz, dass die Kollegen sich jetzt plötzlich so schrecklich überarbeitet fühlen. Die andere Seite war eben, dass man dann 3.000 Poolärzte auf die Straße gesetzt hat, die eben auch hätten einspringen können. Für die, die das als zusätzlichen Stress empfunden haben, oder sich dem nicht gewachsen fühlen.

SWR Aktuell: Während Ihrer Tätigkeit als Poolarzt gab es einen bestimmten Tag, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist ...

Erchinger: Am 1. Oktober 2022 hatte ich meinen letzten Dienst, es war ein Samstag, von 8 bis 15 Uhr. Da hatte ich 100 Patienten in 7 Stunden. Ich hatte kaum eine Pause. Wer soll das jetzt alles auffangen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Das ist auch eine schwierige Situation, wie das schlussendlich gehandhabt wird: Wer darf in die Notfallpraxis am Krankenhaus, oder wer darf in die Notfallpraxis der niedergelassenen Ärzte? Das muss auch weiter bedacht werden.

SWR Aktuell: Warum haben Sie nach diesem Tag nicht mehr als Poolarzt gearbeitet?

Erchinger: Dann kam ein paar Tage später ein Brief von unserer KV, dass dieses Poolarztsystem jetzt abgeschafft wird. Ein Zahnarzt hatte geklagt beim Bundessozialgericht, dass er nicht sozialversicherungspflichtig wäre. Das Gericht hat das aufgegriffen und gesagt, wir seien eigentlich Angestellte unserer KV, also müssten wir entsprechend auch Sozialversicherungsbeiträge abliefern. Für mich hat das bedeutet, dass die KV die Verträge mit uns Poolärzten gekündigt hat. Weil sie das nicht leisten könnten, der Verwaltungsaufwand sei zu groß, die Kosten seien zu hoch und so weiter. Das sehe ich natürlich ein, das ist in meinen Augen auch völlig absurd.

SWR Aktuell: Wenn wir uns den Begriff Notfallpraxis mal schauen, der ist ja immer wieder in der Kritik, zuletzt auch durch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Es geht darum, dass es ein Bereitschaftsdienst ist, der nicht für Notfälle gedacht ist, für die die Notaufnahmen zuständig sind. Wie haben Sie das erlebt in all den Jahren: Haben Sie Notfälle behandelt, oder überwiegend Leiden, die in den Hausarztbereich fallen?

Erchinger: Es sind schon überwiegend Leiden gewesen, die in den Hausarztbereich fallen. Wobei Notfall zu definieren für den einzelnen Patienten sicher sehr individuell ist, das muss man auch sagen. Der Patient selbst kann häufig nicht entscheiden, wie dringend etwas ist. Wenn jemand mit starken Halsschmerzen kommt, kann das eine viral bedingte Rachenentzündung sein, also harmloser Natur. Es kann eine eitrige Mandelentzündung sein, oder es kann gar ein Tonsillarbszess sein, alles hab ich schon erlebt. Das ist Wortklauberei, das führt nicht weiter.

SWR Aktuell: Müssen wir zwischen Jüngeren und Älteren unterscheiden?

Erchinger: Ich muss sagen, es kamen eigentlich eher jüngere bis mittelalterliche Patienten in die Notfallpraxis. Zu zwei Dritteln waren es eher die jüngeren Leute, die gekommen sind.

SWR Aktuell: Woran liegt das?

Erchinger: Was man immer wieder gehört hat ist, dass sie keinen Hausarzt gefunden hätten. Das ist sicher ein Grund, außerdem sind jüngere Leute einfach mobiler. Ältere sind auch in der Regel reservierter, sich selbst als Notfall einzustufen, da tun sich manche Älteren oft schwer. Was ich öfter erlebt habe in meiner Praxistätigkeit: Dass Leute am Montag gekommen sind, die ziemlich krank waren am Wochenende, aber sich nicht getraut haben, in so eine Praxis zu gehen, sie wollten niemanden belästigen. Die hätte ich als Notfall eingestuft, aber sie sind nicht gekommen. Jüngere sind da ein bisschen unerschrockener, wagen so einen Schritt dann eher.

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SWR Aktuell: Worum machen Sie sich jetzt, wo so viele Notfallpraxen schließen sollen, konkret Sorgen?

Erchinger: Ich mache mir einfach Sorgen, dass diese Notfallpraxen an den Krankenhäusern überlastet werden. Irgendwo müssen diese Patienten hin. Auch werden dann Krankenhausärzte abgezogen, um dort zu arbeiten. Die fehlen dann wieder im Krankenhaus. Und dann ist die Überlastung dieser Krankenhausärzte ein Thema.

SWR Aktuell: Was würden Sie vorschlagen, zu tun, statt Notfallpraxen zu schließen?

Erchinger: Ich würde weiter vorschlagen, dass man Kollegen, die bereit sind, solche Dienste zu übernehmen, ohne großen büorkratischen Aufwand zu betreiben, übernimmt. Ich würde der Einfachheit halber so eine Art Poolarztsystem wieder aufbauen. Der Patient sollte einfach das Gefühl haben: Wenn ich am Wochenende einen Arzt brauche, dann habe ich eine Anlaufstelle. Diese Anrufe bei der Nummer 116 117 - da entscheidet halt jemand am Telefon, ob man ein Notfall ist, der einen Hausbesuch, einen Krankenwagen oder sogar einen Notarzt braucht. Ob das immer richtig entschieden wird - das würde ich auch in Frage stellen. Deswegen: Diese Chance dem Patienten zu geben, eine gewisse Entscheidungsfreiheit zu behalten, wo gehe ich jetzt hin - das sollte gewahrt bleiben.

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