Exklusive SWR-Umfrage

Ämter in BW am Limit: Angriffe auf Beschäftigte nehmen zu

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Samantha Ngako
Redakteurin Samantha Ngako im Portrait
Autor/in
Geli Hensolt
Geli Hensolt
Claus Hanischdörfer

Lange Wartezeiten bei Behörden, dazu Ämter, die wegen Personalmangels geschlossen sind: das nervt viele. Eine SWR-Umfrage zeigt erstmals die Folgen für die Beschäftigten. Unter anderem nehmen Attacken auf sie zu.

Beschäftigte in Behörden in Baden-Württemberg leiden unter enormer Überlastung, unter anderem wegen Personalmangels. Für die Bürgerinnen und Bürger entstehen dadurch mitunter lange Wartezeiten. Eine SWR-Umfrage zeigt, dass Angriffe auf Beschäftigte in Ämtern zunehmen. Außerdem werden nach Angaben der Ämter Entscheidungen immer häufiger in Frage gestellt.

Freiburg, im Sommer 2023, im Bürgerbüro der Stadt: Ein Mann am Schalter droht, "den Laden in die Luft zu sprengen". Die Mitarbeiterinnen informieren die Polizei. Die führt den Mann ab, bevor Schlimmeres passiert. Situationen wie diese gehören mittlerweile zum Alltag in den Behörden im Südwesten.

Eine exklusive Umfrage des SWR unter den Mitarbeitenden von Bürgerbüros, KfZ-Zulassungsstellen, Jugendämtern, Baubehörden, Ausländerbehörden und Sozialämtern in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz belegt: Rund 41 Prozent werden mindestens einmal im Monat verbal oder körperlich attackiert. Bei 16,5 Prozent ereignen sich solche Angriffe sogar wöchentlich.

SWR-Redakteurin Geli Hensolt erläuterte im Gespräch mit Georg Bruder bei SWR Aktuell die Ergebnisse:

 

Erschreckende Ergebnisse für Eva Thomann, Professorin für Verwaltungswissenschaft der Universität Konstanz. "Das hat mich tatsächlich etwas schockiert, dass es zu einer so starken Zunahme von Angriffen und Anfeindungen gegen Verwaltungs-Angehörige gekommen ist." 

In Zusammenarbeit mit dem SWR hat die Verwaltungswissenschaftlerin die Umfrage entworfen und ausgewertet. Über 1.100 Amtsleiterinnen und Amtsleiter haben sich daran beteiligt. 

Vertrauen in Behörden hat abgenommen  

84 Prozent der Beschäftigten, die an der Umfrage teilnahmen, gaben zudem an, dass Entscheidungen von Behörden häufiger als früher in Frage gestellt werden würden. Für Thomann ist das ein Beleg dafür, dass die Bevölkerung weniger Verständnis für die Verwaltung hat und das Vertrauen in die Behörden, und damit den Staat, abnimmt.

Auch andere Erkenntnisse aus der Ämterbefragung sind alarmierend: So räumen viele Beschäftige ein, dass sich bei ihnen die Akten mit unbearbeiteten Aufgaben stapeln, etwa 60 Prozent beklagen einen permanenten Rückstau. Auch, weil die Anzahl der Fälle, die die Mitarbeitenden bearbeiten müssen, in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegen sei: In Baden-Württemberg geben 91 Prozent an, die Arbeitsbelastung habe zugenommen.

Besonders groß ist die Zahl der unerledigten Fälle der SWR-Umfrage zufolge bei den Ausländerbehörden und den Jugendämtern im Südwesten.

So machte unter anderem die Stuttgarter Ausländerbehörde im Herbst 2023 bundesweit Schlagzeilen, weil Geflüchtete, Migranten oder Fachkräfte aus dem Ausland in langen Schlangen stundenlang auch nachts vor der Behörde ausharrten - in der Hoffnung auf einen Termin. Die Behörde: vollkommen überlastet. Mittlerweile sind die Schlangen deutlich kürzer geworden. Auch, weil Warten nichts mehr bringt, zur Behörde kommt man inzwischen nur noch mit einem vorab vereinbarten Termin - der kann für manche Anliegen mittlerweile sogar online gebucht werden. Vorausgesetzt, es gibt freie Slots. Ein Problem - nicht nur in Stuttgart - ist der Fachkräftemangel: Laut der SWR-Umfrage sind fast alle (in BW 93 Prozent) Behörden davon betroffen.  

Jugendamt: Überlastung kann schwerwiegende Folgen haben

Zum Beispiel das Jugendamt des Enzkreises: 13 Prozent der Stellen sind dort aktuell nicht besetzt. Für die Mitarbeitenden bedeutet das mehr Arbeit. Im Jugendamt geht es dabei immer um die Schicksale von Kindern und Familien. Wenn die Beschäftigten - aus Zeitdruck oder Überlastung - etwas übersehen oder falsch entscheiden, könnte das schwere Konsequenzen haben. Das weiß auch Katja Kreeb, die Dezernentin für Familie und Soziales im Enzkreis. Der Supergau im Jugendamt, so sagt sie, sei es, wenn ein Kind zu Schaden oder noch schlimmer zu Tode komme, und die Behörde verpasst habe, rechtzeitig zu reagieren. Sie weiß, je belasteter die Mitarbeitenden sind, desto größer wird diese Gefahr.

Bürokratie macht Ämtern zu schaffen 

Warum aber sind so viele Ämter am Limit? In der Befragung geben die Beschäftigen einige Antworten: Sie machen dafür unter anderem die zunehmende Bürokratie verantwortlich sowie neue Aufgabenbereiche, Verordnungen und Gesetze. Dazu komme der Fachkräftemangel und die mangelhafte Digitalisierung. Wie Recherchen zeigen, sind diese Probleme teilweise schon seit Jahrzehnten bekannt. Getan hat sich offenbar nur wenig. Viele Ämter arbeiten nach wie vor mit Akten aus Papier, die Umstellung auf die elektronische Akte ist zeitaufwendig und teuer.

Weiteres Problem: Viele digitale Angebote funktionieren nicht wie gewünscht. Bauanträge sollen zwar teilweise bereits digital versendet werden. In einem Schreiben, das dem SWR vorliegt, beklagt die Stuttgarter Baurechtsbehörde jedoch die "unterirdische Qualität" der digitalen Plattform und die nach wie vor mangelhafte soft- wie hardwaretechnische Ausstattung. In diesem Fall führt die Digitalisierung also offenbar nicht dazu, dass sich Dinge beschleunigen, sondern bewirkt das Gegenteil. Eine Folge: Neue Wohnungen, die in Stuttgart dringend benötigt werden, können nur verzögert oder gar nicht gebaut werden.

Porträt einer Protagonistin aus der SWR Story "Amt am Limit - Der Staat vor dem Kollaps?"
Verena Walk hat ein Team im Bürgerbüro Stuttgart-Mitte geleitet.

Ärger der Bürgerinnen und Bürger wird größer

Bei den Bürgerinnen und Bürgern wächst deshalb der Ärger. Das erlebt Verena Walk in ihrem beruflichen Alltag immer wieder. Sie leitete drei Jahre lang eines der Teams im Bürgerbüro Stuttgart-Mitte. Der Frust der Leute sei hoch, sagt sie. Vor allem wegen der langen Wartezeiten. Doch sie sieht auch die Behörden selbst in der Pflicht und wünscht sich, dass sich auch innerhalb der Ämter etwas ändert.

Wenn man irgendwelche Ideen hat, dann laufen die über zigtausend Tische, bis es irgendwann mal entschieden wird. Den Spruch, das haben wir schon immer so gemacht, den hört man ständig und ich kann es nicht mehr hören.

Verena Walk hat mittlerweile in einen anderen Bereich der Verwaltung gewechselt. Strukturelle Probleme innerhalb der Ämter bescheinigt auch eine Baden-Württembergerin, die lange in einer Behörde gearbeitet hat und aus Angst vor Konsequenzen anonym bleiben möchte. Ihrer Meinung nach herrscht eine wahnsinnige Angst davor, Fehler zu machen. Deswegen machten die Leute lieber gar nichts. Zudem würden die Mitarbeitenden die Bürgerinnen und Bürger nicht als Partner sehen, sondern oft gelte: "Achtung Kundschaft droht mit Auftrag." Wer Fragen stelle, störe, wer kritische Fragen stelle, sei ein Gegner.

Behördenmitarbeiter verlieren Vertrauen in Politik 

Überlastung, Angriffe, Frust - viele Beschäftigte fühlen sich in dieser Situation offenbar alleingelassen. Die SWR-Umfrage zeigt: die meisten Mitarbeitenden (76 Prozent in Baden-Württemberg) haben das Vertrauen in die Politik, ihrem obersten Dienstherrn, verloren.

Und dieser Vertrauensverlust, warnt Verwaltungswissenschaftlerin Thomann von der Uni Konstanz, könne die Zusammenarbeit zwischen Politik und Verwaltung nachhaltig stören: "In meinen Augen ist das ein großes Problem."

Experten fürchten außerdem: Wenn viele Menschen das Gefühl haben, dass die Verwaltung nicht mehr funktioniert, leide darunter auch das Vertrauen der Menschen in den Staat und die Demokratie. Das könnte ein Grund dafür sein, dass die Zahl der Übergriffe auf Behördenmitarbeitende steigt, so die Einschätzung von Thomann.

Porträt einer Protagonistin aus der SWR Story "Amt am Limit - Der Staat vor dem Kollaps?"
Verwaltungswissenschaftlerin Eva Thomann in der SWR-Dokumentation "Amt am Limit"

Neues Sicherheitskonzept in Freiburg 

Etwas mehr als ein Jahr ist vergangen, seit ein Angriff im Bürgerbüro Freiburg mit einem Polizeieinsatz beendet werden musste. Die Behörde hat Konsequenzen gezogen: Sicherheitsleute patrouillieren seitdem permanent durch das Amt, für die Mitarbeitenden gab es Schulungen mit der Polizei. In dem neu errichten Gebäude sind die Kunden-Schalter zudem wie ein Rondell gestaltet - im Inneren gibt es eine Art Schutzraum. Amtsleiterin Christina Schoch ist das Thema Sicherheit wichtig - aber diese sollte nicht zu Lasten der Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger gehen, sagt sie. "Wir sind ein Bürgeramt, wir wollen offen sein, wir wollen unsere Kundschaft bedienen."

Das beste Mittel gegen verbale oder körperliche Attacken aber ist ihrer Meinung nach, den Menschen den bestmöglichen Service zu bieten. Ein Computerprogramm beobachtet und steuert deshalb in Freiburg die Kundenströme. So ist garantiert, dass stets genügend Schalter besetzt sind und kaum Wartezeiten entstehen. Schoch betont, es gehe um Kunden- und Mitarbeitenden-Zufriedenheit im gleichen Maße. Wenn beides im Gleichgewicht sei, dann mache die Arbeit auch Spaß und der Betrieb funktioniere. Kein Wunder also, dass die Freiburger Behörde bei einer Umfrage des Verbraucherschutzvereins Berlin/Brandenburg im vergangenen Jahr auf Platz 3 der bundesweit besten Bürgerämter landete.

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