Ein deutscher Reisepass liegt auf einem Tisch. (Symbolbild)

Allein in Stuttgart 8.000 Anträge offen

Tausende Anträge für deutschen Pass: BW-Städte sind wegen Einbürgerungen überlastet

Stand
Autor/in
Markus Pfalzgraf

Seit Ende Juni gilt ein neues Staatsbürgerschaftsrecht. So sollen mehr Menschen leichter einen deutschen Pass bekommen können. Doch das sorgt für mehr Anträge. Und die Behörden sind ohnehin schon überfordert.

Liubov will unbedingt einen deutschen Pass, ohne ihren bisherigen zu verlieren. Sie ist seit mehr als zehn Jahren in Deutschland, ihr Mann Alexej schon seit seiner Kindheit. Zusammen haben sie eine kleine Tochter, die seit ihrer Geburt die deutsche und die russische Staatsbürgerschaft hat. Liubov und Alexej hätten sich vor der Gesetzesänderung für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden müssen. Jetzt können sie ihre russischen Pässe behalten - etwa, um einfacher ihre Mutter zu besuchen, wenn mal etwas sein sollte.

Mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht wurde nicht nur eine reguläre doppelte Staatsbürgerschaft ermöglicht, sondern auch die Frist verkürzt, bis man einen Antrag stellen kann - zumindest theoretisch: Statt in der Regel nach acht Jahren können Menschen sich schon nach fünf Jahren in Deutschland einbürgern lassen, wenn sie eine Reihe anderer Voraussetzungen erfüllen. Dazu gehören beispielsweise Arbeit und Deutschkenntnisse.

 Anträge für deutschen Pass stapeln sich in den Ämtern

Doch in der Praxis führt das dazu, dass die Behörden deutlich mehr Anträge bekommen. Der Städtetag Baden-Württemberg schätzt, dass in den meisten Großstädten aktuell mindestens doppelt so viele Anträge vorliegen wie vor der Gesetzesänderung - und das bei ohnehin angespannter Personallage. Die Folge: Bearbeitungszeiten von bis zu zwei oder drei Jahren. In Stuttgart dauern die Verfahren laut Auskunft der Stadt im Schnitt anderthalb Jahre. Dort gibt es derzeit 8.000 Einbürgerungsanträge, die nicht abgearbeitet sind - und täglich kommen 70 neue hinzu. Auch in Landkreisen ist das längst ein Problem. Der Bodenseekreis nimmt schon keine Anträge mehr an. Laut Landratsamt warten allein dort rund 2.000 Menschen darauf, dass ihre Anträge auf Einbürgerung bearbeitet werden.

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Überlastete Behörden auch in Ravensburg, Biberach und Sigmaringen Bis Jahresende keine Anträge auf Einbürgerung im Bodenseekreis

Wer im Bodenseekreis die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen will, muss bis 2025 warten. Das Landratsamt nimmt vorerst keine Anträge entgegen. Andere Landkreise stocken das Personal auf.

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Überall in Baden-Württemberg gibt es Städte und Landkreise mit einer vierstelligen Zahl an unbearbeiteten Anträgen. Der Städtetag fordert, dass das Land den Kommunalverwaltungen die Mehrkosten erstatten soll. Außerdem müsse die Politik dringend für mehr Personal sorgen. Schließlich stehe es im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Landesregierung, die Einbürgerungsbehörden strukturell zu stärken.

Das Innenministerium lässt erklären, man habe dies "im Blick". Man wolle "möglichen Entscheidungen des Haushaltsgesetzgebers jedoch nicht vorgreifen."

Deutscher Pass: Hilfe bei Einbürgerungsunterlagen

Was könnten also andere mögliche Lösungen sein? In Rheinland-Pfalz wird ein Projekt getestet, das sich weitgehend auf Ehrenamtliche stützt. In mehreren Städten und Kreisen helfen "Einbürgerungslotsinnen" Menschen dabei, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Sie kennen die Verfahren und Besonderheiten bei den jeweiligen Ämtern und beraten dabei, die richtigen Anträge und Unterlagen vorzulegen. So können sie beispielsweise helfen, Nachforderungen und zusätzliche Verzögerungen zu vermeiden. Das helfe den Menschen und entlaste zugleich die Behörden, sagt Susanne Kolb, die Projektleiterin für Rheinland-Pfalz von "Pass[t] Genau", einem Beratungsnetzwerk des Bundesintegrationsrats. Sie und ihre "Lotsen" halten engen Kontakt zu den Behörden und helfen weiter, wenn es hakt.

Wäre das nicht auch etwas für Baden-Württemberg? Laut Projektleiterin Kolb könnte die Initiative problemlos auf andere Bundesländer übertragen werden. Allerdings finanziert die Bundesbeauftragte die Einbürgerungslotsen nur als Pilotprojekt für Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz. Für alles Weitere müsste dann das jeweilige Bundesland auch in die Finanzierung einsteigen. Und dazu wollen sich Sozial- und Innenministerium in Baden-Württemberg nicht äußern.

Untätigkeitsklage als Notlösung

Die Stuttgarterin Liubov - sie und ihr Mann möchten nur mit Vornamen erscheinen - hat einen anderen Weg gewählt: Sie hat vor kurzem ihren Einbürgerungsantrag abgegeben, mit Hilfe einer Anwaltskanzlei, die auf solche Verfahren spezialisiert ist. So hofft sie, "nur" bis zu einem Jahr warten zu müssen, statt zwei bis drei Jahre, was in Stuttgart inzwischen oft die Regel ist.

Kanzleien wie "Migrando" aus Cottbus kümmern sich um tausende Fälle im Jahr. Rechtsanwalt Fabian Graske berichtet, dass er immer mehr Anfragen bekomme, auch aus Baden-Württemberg. Er und seine Kollegen helfen derzeit rund 1.200 Einbürgerungswilligen in Baden-Württemberg dabei, möglichst vollständige Unterlagen abzugeben - die allerdings schnell veraltet sind, wenn sie erst einmal monatelang unbearbeitet bleiben. Deshalb müssten sie manchmal auch Klage einreichen. Denn Personalmangel und lange Verfahrensdauern führten dazu, dass Unterlagen oft nicht mehr aktuell seien, wenn sie bearbeitet werden würden. "Wenn das etwas strukturierter ablaufen würde," meint Graske, "könnte man 80 Prozent des Verwaltungsaufwandes sparen."

Mehr über die Arbeit von Fabian Graske im SWR Aktuell-Interview:

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