15 Millionen Menschen laut Deutschem Schwerhörigenbund hörbeeinträchtigt
Schlecht hören, ein Hörgerät tragen – das kommt doch erst im hohen Alter! Diese Vorstellung von Schwerhörigkeit scheint sich hartnäckig zu halten. Zwar ist richtig, dass der Anteil der Hörbeeinträchtigten mit zunehmendem Alter steigt: Ab einem Alter von 50 Jahren ist etwa jeder vierte betroffen, ab 70 Jahren mehr als die Hälfte. Doch auch immer mehr junge Menschen klagen über abnehmendes Hörvermögen.
In den meisten Fällen nimmt die Hörleistung schleichend ab. Warum das so ist, erklärt Sara Euteneuer, HNO-Ärztin am Uniklinikum in Heidelberg: In unserem Ohr befinden sich feine Sinneszellen, die Schallwellen in elektrische Signale umwandeln und an unser Hirn weiterleiten. Mit zunehmendem Alter, wenn der Körper generell abbaut, nimmt auch die Anzahl dieser Sinneszellen ab – ein allmählicher Hörverlust ist also ein Stück weit normal.
Straßenlärm, Musik, Lärm am Arbeitsplatz: Ohren sind ständig gefährdet
Allerdings kann Schwerhörigkeit schon in jungen Jahren auftreten. Das kann erblich bedingt sein oder durch Entzündungen des Ohres hervorgerufen werden, weiß Sara Euteneuer. In Industrieländern wie Deutschland ist es aber vor allem der ununterbrochene Lärm, – sowohl in der Freizeit als auch auf der Arbeit, – der Hörschäden verursachen kann.
Wenn zu oft sehr laute Geräusche über das Ohr gehen, dann wird der elektrische Impuls so groß, dass die Verbindung zwischen den Sinneszellen und den Hörnervenzellen im wahrsten Sinne des Wortes durchbrennt. Und dieser Schaden an den Nervenverbindungen ist unumkehrbar, betont Sara Euteneuer die Konsequenz von andauerndem Lärm.
"Das Hören ist nicht das größte Problem – sondern das Verstehen."
Wie ist es, schwerhörig zu sein? Normalhörende können das wohl nur begrenzt nachvollziehen, mutmaßt Renate Enslin. Sie arbeitet für eine Ausstellung der Stiftung Schwerhörige und Gehörlose in Frankfurt. Hier kann man selbst erleben, mit welchen Herausforderungen schwerhörige Menschen im Alltag zu kämpfen haben. Etwa mit Schallschutz-Kopfhörern, die die Umgebungsgeräusche dämpfen.
Und auch Benedict Kolajka versucht, seine Eindrücke zu beschreiben. Der Student ist selbst schwerhörig und trägt seit seiner Kindheit Hörgeräte:
Das macht vor allem Gespräche in Gruppen sehr anstrengend. Es passiert schnell, dass man nicht mehr hinterherkommt und sich auch mal ausgeschlossen fühlt, so Kolajka.
Schwerhörig – na und?! Offener Umgang mit eigener Höreinschränkung erhöht die Lebensqualität
"Hast du nicht verstanden? Kauf dir doch endlich ein Hörgerät." – Schlecht hören heißt oft: nicht dazugehören. Mit Schwerhörigkeit steigt das Risiko für Isolation, Depression und Demenz. Psychologen fordern deshalb, solche psychosozialen Auswirkungen stärker zu berücksichtigen.
Ein Ansatz in der Hörgeschädigten-Pädagogik ist, mit den Betroffenen eine veränderte innere Haltung zu entwickeln: Die eigene Höreinschränkung nicht als Mangel zu sehen, sondern als Teil der Identität, die es eben mit sich bringe, anders zu kommunizieren.
So empfindet auch Benedict Kolajka. Als Teil des "Projekts Ohrenstark" in Hessen engagiert er sich für schwerhörige Kinder und Jugendliche und hilft ihnen, mit der eigenen Schwerhörigkeit selbstbewusster umgehen zu lernen:
Ohne Reize verkümmert der Hörnerv – Hörgeräte stärken neuronale Verbindungen
Ältere mit solchen Botschaften zu erreichen, sei allerdings schwer, sagt die Sozialarbeiterin Kathrin Kluge vom Projekt Beethoven in Düsseldorf. Hörprobleme verursachen Scham, sie gelten als Stigma: Schlecht hören, bedeutet für viele Gebrechlichkeit und Verfall.
Darum zögern es viele Betroffene zu lange heraus, sich ärztliche Hilfe zu suchen oder ein Hörgerät zu besorgen. Teilweise jahrelang. Allerdings verlernt das Gehirn das Hören, wenn immer weniger Töne ankommen, die es stimulieren. Der Hörnerv verkümmert zunehmend.
Aktuelle Studie warnt: Fehlendes Hörvermögen geht mit höherem Demenzrisiko einher
Dabei könnte ein abnehmendes Hörvermögen noch weitere, negative Auswirkungen mit sich bringen: Eine Studie der Universität Leipzig deutet auf einen Zusammenhang zwischen Schlecht-Hören und dem langfristige Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Der an der Forschung beteiligte Psychologe Alexander Pabst, appelliert deshalb:
Minimalistisches Design und Hightech sollen Hörgeräte attraktiver machen
Obwohl es helfen würde – ein Hörgerät zu tragen, empfinden viele Betroffene als unangenehm. Auch Benedict Kolajka erging es als Kind so. "Ich war der mit den Hörgeräten im Ohr", erinnert sich der Student aus Frankfurt. Und es hat wehgetan, auf diese Geräte reduziert zu werden.
Einige Hersteller versuchen deshalb, ihre Produkte unauffälliger zu gestalten. Auch Hannes Seidler, Ingenieur am Ear-Research-Center der Uniklinik Dresden, verwirft das Bild von der klobigen Hörhilfe im Ohr: Hörgeräte überzeugen inzwischen mit modernster Technik. Manche Hightech-Modelle können sogar Fremdsprachen übersetzen, schwärmt Seidler.
Eine künstliche Hör-Schnecke: Cochlea-Implantat kann bei schwerer Taubheit helfen
Doch auch Hörgeräte haben ihre Grenzen. Wenn das Hörverstehen mit ihnen weniger als 50 Prozent beträgt, bezahlt die Krankenkasse ein sogenanntes Cochlea-Implantat. Es überträgt den Schall mit elektrischen Impulsen. So können selbst Menschen, die ertaubt sind, wieder etwas hören.
Ein weiterer Trend in der Medizintechnik ist die sogenannte Opto-Genetik. Dabei geht es – vereinfacht gesagt – darum, die Haarsinneszellen im Ohr so umzuprogrammieren, dass sie, wie die Sinneszellen im Auge, auch auf Licht reagieren. Neuartige Cochlea-Implantate könnten dann eines Tages Hörsignale als Lichtimpulse weitertragen – so die Hoffnung.
Wann Technik und Medizin allerdings so weit sind, bleibt offen. Expertinnen und Experten raten deshalb, bei aufkommender Schwerhörigkeit nicht auf neue Entwicklungen zu warten – sondern schon jetzt gegenzusteuern, möglichst früh, aber auch noch im hohen Alter.
SWR 2023 / 2024