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Wie Geräusche auf uns wirken – Von Misophonie bis ASMR

Stand
Autor/in
Marie Brand
Onlinefassung
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Rascheln, schlucken, knacken – es gibt Menschen, die können ohne diese Geräusche nicht mehr einschlafen. Andere werden von ihnen ernsthaft krank.

ASMR: Netzkult um Geräusche

Es gibt Menschen, die bestimmte Geräusche nahezu vergöttern und immer wieder hören wollen. Dahinter steckt die „Autonomous Sensory Meridian Response“ – kurz: ASMR. Dabei handelt es sich nicht um einen wissenschaftlichen Begriff; die Online-Community hat sich diesen Namen selbst gegeben.

Youtube gilt als größter Treffpunkt für ASMR. Seit 2010 besteht dort der Netzkult um Geräusche, die beim Hören ein Kribbeln auf der Haut auslösen: Fans nennen das “Tingles”. Zu vergleichen ist das Gefühl mit einer Gänsehaut – es hält nur länger an und zieht sich durch den ganzen Körper.

ASMR beliebt bei Einschlafproblemen

Was mit Menschen während einer ASMR-Sitzung passiert, weiß Prof. Claus-Christian Carbon. Er ist Wahrnehmungsforscher an der Universität Bamberg. In seinen Studien begleitet er Versuchspersonen dabei, wie sie ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf Geräusche legen.

In einem ASMR-Video hat man als Zuschauer keinen Zugang zur Haptik, dem Geschmack oder Geruch des Gegenstandes, und trotzdem kann man etwas fühlen. Denn fällt ein Sinneskanal aus, wird dieser vom Gehirn ersetzt. Bei der multisensorischen Integration ist es laut Carbon so, dass wir trotz einseitigen Sinneseindrücken etwas gesamtheitlich sensorisch wahrnehmen und im ganzen Körper spüren können.

Für viele gilt das als Entspannungsmethode; aus diesem Grund ist ASMR bei Einschlafproblem besonders beliebt. Claus-Christian Carbon rät aber davon ab, die Entspannungstechnik blind gegen ernsthafte Erkrankungen anzuwenden – dafür existieren bisher zu wenig wissenschaftliche Belege. Und ein sicheres Erfolgsversprechen gebe es einfach nicht, denn das kribbelige Gefühl nehmen nicht alle gleich wahr. Doch ASMR kann man lernen, davon ist Claus-Christian Carbon überzeugt.

Bob Ross – "Vater des ASMR"

Der US-amerikanische Maler Bob Ross gilt als Vater des ASMR. In den 1980er-Jahren moderierte er die Sendung "The Joy of Painting". Mit ruhiger Stimme und vorsichtigen Pinselstrichen erklärt er, wie das Malen funktioniert. Videos findet man auf Youtube.

Möhren hören und Kaugummis kauen

Das Internet hat ASMR zu einer Art Kunstform erhoben – online gibt es zahlreiche Kunstschaffende, die alle erdenklichen Geräusche auf unterschiedlichste Arten inszenieren: Von Teppichklopfen bis Kaugummi kauen. Die Audioqualität muss gut sein: Sonst gibt es bei ASMR-Videos nur wenig Regeln.

Inhaltlich geht fast alles: Menschen zeigen ihren Wocheneinkauf im Flüsterton. Andere spielen einen Friseurbesuch nach und tun so, als würden sie ihrem Publikum die Haare schneiden. Merlin von The Vegan Butcher zeigt auf Youtube nur seine Hände vor der Kamera. Dabei spricht er kein Wort. Das übernehmen seine Zutaten. Bei ihm geht es ausschließlich um die Geräusche – und die entstehen beim Zubereiten und Kochen von Mahlzeiten.

Misophonie: Wut, Ekel, Panik bei bestimmten Geräuschen

Auf der anderen Seite des Spektrums der Geräuschwahrnehmung liegt die Misophonie: So bezeichnet die Wissenschaft den Hass auf ganz bestimmte Geräusche. Erstmals benannt und beschrieben in den 1990er-Jahren von Margaret und Pawel Jastreboff, einem US-amerikanischen Neurowissenschaftlerpaar. Betroffene spüren Wut, Ekel oder Panik bei gewissen Geräuschen.

Nahaufnahme von Mund mit Apfel
Essgeräusche werden als häufigste Ursache für Misophonie genannt

Bis heute ist die Misophonie nicht als Krankheit klassifiziert – deshalb ist nicht bekannt, wie viele Menschen genau darunter leiden. Der Geräuschehass gilt unter Fachleuten als ungenaues Konzept. Im Netz berichten Betroffene von einer Vielzahl an konkreten Auslösern: Einige hassen es, wenn Türen geknallt werden. Andere werden rasend vor Wut beim Summen von Melodien, Klicken von Kugelschreibern oder wenn die Spülmaschine eingeräumt wird. Essgeräusche werden als häufigste Ursache genannt.

Wie lässt sich Misophonie behandeln?

Dass der Hass auf Geräusche genetisch veranlagt sein könnte, ist zum jetzigen Zeitpunkt nur eine Vermutung. Die Studienlage fällt bisher dürftig aus und es gibt derzeit keine wissenschaftlich belegte Therapie oder medikamentöse Behandlung für Misophonie. Die wohl größte Hoffnung für Menschen, die an Misophonie leiden, liegt in Amsterdam.

Arjan Schröder gehört zu einer psychologisch-psychiatrischen Forschungsgruppe der Universität Amsterdam, die sich intensiv mit dem Hass auf Geräusche beschäftigt. Für das Team gab es von Anfang an drei zentrale Fragen:

  1. Wie lässt sich Misophonie konkret definieren?
  2. Was passiert im Gehirn von Misophonikern?
  3. Wie lässt sich Misophonie behandeln?

Therapie: Entspannungsübungen und Aufmerksamkeitstraining

Dafür hat die Forschungsgruppe aus Amsterdam einen ersten Kriterienkatalog für Misophonie und spezielle Verhaltenstherapien entwickelt: Eine Mischung aus Entspannungsübungen und Aufmerksamkeitstraining soll helfen.

Das Ziel ist es, die Sinne auf die Umgebung zu schärfen: Betroffene sollen lernen, sich auf andere Töne und Reize zu fokussieren. Zusätzlich soll das Gehirn umkonditioniert werden, um die verhassten Geräusche mit positiven Gefühlen zu verbinden.

Misophonie und ASMR: Dasselbe Geräusch kann Menschen krank machen oder tief entspannen
Misophonie und ASMR: Dasselbe Geräusch kann Menschen krank machen oder tief entspannen

Betroffenen wird zum Beispiel ein Video von einem Spaziergang durch den Schnee gezeigt, dazu hören sie das Geräusch eines Menschen, der Chips isst. Durch die Ähnlichkeit dieser beiden Geräusche hofft das Team, die negative Verknüpfung im Gehirn zu überschreiben. Erste Erfolge konnten sie dabei bereits verzeichnen.

ASMR und Misophonie: außergewöhnliche Geräusch-Wahrnehmung

Es gibt Menschen, die ein besonderes Gespür für Klänge haben, eine gewisse Sensibilität und Empfänglichkeit, die andere nicht nachvollziehen können. Und dabei fällt auf: ASMR-Fans und von Misophonie Betroffene sind sich ähnlicher als gedacht. Ihre außergewöhnliche Wahrnehmung für Geräusche driftet nur in entgegengesetzte Richtungen.

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