Ein halbes Jahr auf einen Therapieplatz warten
Wer sich auf die Suche nach einer Psychotherapie machen muss, braucht einen langen Atem. Derzeit dauert die Wartezeit für einen ambulanten Therapieplatz durchschnittlich 22 Wochen.
Wer darauf angewiesen ist, dass die Krankenkasse die Kosten übernimmt, muss sogar 24 Wochen warten, also fast ein halbes Jahr. Das zeigt eine Umfrage des Verbands für psychologische Psychotherapeuten. Auch die stationären Einrichtungen sind voll belegt.
Warum ist es so schwierig, einen Therapieplatz zu finden?
Ein Grund: Die Zahl der Kassensitze für psychotherapeutische Praxen wurde bereits vor über 20 Jahren im Jahr 1999 festgelegt. Sie ist bis heute gültig und wurde zwar angepasst, aber nie grundlegend überarbeitet. Der Bedarf an Therapieplätzen, der damals ermessen wurde, gibt also bis heute vor, wie viele Kassensitze es für Psychotherapeuten gibt.
Die neue Ampel-Regierung will das ändern. Im Koalitionsvertrag 2021 heißt es:
Bessere Diagnose, weniger Stigmatisierung: Zahl der Hilfesuchenden wächst
Doch heute ist mehr als ein Viertel der Erwachsenen von einer psychischen Erkrankung betroffen, so die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Auch wenn nur jeder Fünfte von ihnen therapeutische Hilfe in Anspruch nimmt, haben sich die Zahlen in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass psychische Erkrankungen zunehmend besser erkannt und auch immer weniger stigmatisiert werden.
Krankenkassen bezahlen 4 verschiedene Therapieformen
Derzeit bezahlen die Krankenkassen vier verschiedene Therapieformen: zum einen die Psychoanalyse, die oft auf mehrere Jahre angelegt ist, sowie die tiefenpsychologisch fundierte Therapie. Beide setzen sich viel mit der Vergangenheit auseinander.
Am häufigsten kommt inzwischen die Verhaltenstherapie zum Einsatz, die davon ausgeht, dass alte, problematische Verhaltensweisen wieder verlernt werden können. Auch die Systemische Therapie, die Beziehungsgeflechte und Lösungen im Blick hat, wird seit Juli 2020 von den Krankenkassen erstattet. Das Online-Portal des Vereins Pro Psychotherapie bietet eine erste Orientierungshilfe.
Besonders für Kinder und Jugendliche fehlt es an Klinikplätzen
Und nicht nur in den therapeutischen Praxen müssen Menschen mit psychischen Problemen auf Hilfe warten, sondern ebenso in der stationären Therapie. Besonders für Kinder und Jugendliche ist der Bedarf deutlich höher als das Angebot an Plätzen, beobachten Experten.
Weiterhin hohe Anzahl an Therapieanträgen trotz neuer Akutsprechstunde
Statistiken der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung zufolge wurden im Jahr 2019 7,7 Millionen solcher Akutgespräche durchgeführt. Sie sollen dabei helfen zu klären, ob überhaupt Therapiebedarf besteht und welche Therapieform sinnvoll ist.
Die Hoffnung, dass mit der Akutsprechstunde die Zahl der beantragten Therapien sinken würde, hat sich allerdings bisher nicht erfüllt.
Akuttherapie: Sofortmaßnahme zunächst über wenige Wochen
Dagegen begleitet die Akuttherapie über mehrere Wochen bei akuten Krisen. Sie kann bis zu zwölf Sitzungen umfassen und ist als Sofortmaßnahme sicherlich eine deutliche Unterstützung. Doch auch dann muss der Klient weitergeschickt werden. Und ohne Unterstützung schaffen es viele Menschen mit psychischer Erkrankung nicht, mit der frustrierenden Erfahrung umzugehen, wenn sie viele Absagen erhalten.
Vertrauen aufbauen: 5 probatorische Sitzungen sind möglich
Wenn dann ein freier Platz gefunden ist, muss sich erst noch zeigen, ob die Zusammenarbeit für beide klappt. Dafür gibt es bis zu fünf sogenannte probatorische Sitzungen, in denen versuchsweise therapeutisch gearbeitet wird und beide Seiten herausfinden können, ob sich Vertrauen aufbaut.
Was fehlt: Kassensitze, weniger Bürokratie, Bewusstsein für psychische Gesundheit
Deutschland liegt im europäischen Vergleich weit vorne, was die Ausgaben für Psychotherapie betrifft und hat hohe Standards. Und doch finden viele Menschen in psychischen Krisen nicht so schnell und unkompliziert die Hilfe, die sie bräuchten.
Es braucht mehr Kassensitze, weniger Bürokratie, weniger Einschränkung auf bestimmte Therapieformen. Aber auch mehr Bewusstsein in der Gesellschaft für den Wert psychischer Gesundheit. Ein gutes Miteinander in Schulen, Betrieben und Familien – das könnte helfen, damit viele gar nicht erst krank werden.