Hochbegabung ist noch immer mit vielen Klischees behaftet
Vorurteile und Klischees machen vielen Hochbegabten das Leben schwer. Der sonderbare Nerd, das kleine Genie, die isolierte Brillenschlange – die Stereotype sind allgegenwärtig. Hochbegabte Kinder und Jugendliche werden allerdings zu Unrecht zum Sonderling stilisiert oder sogar pathologisiert. Die häufige Annahme, sie seien emotional oder sozial weniger stabil als durchschnittlich Begabte, ist wissenschaftlich nicht haltbar.
Im Gegenteil: Längsschnittstudien wie das Marburger Hochbegabtenprojekt zeigen, dass Hochbegabung ein sehr zuverlässiger Prädiktor für Erfolg und Lebenszufriedenheit ist. Die Vorurteile gegen die Intelligentesten, so hat Dr. Tanja Gabriele Baudson, Professorin für Differentielle Psychologie und psychologische Begabungsforschung an der Heidelberger Hochschule Fresenius, festgestellt, hielten sich aber hartnäckig und leider auch da, wo sie ganz und gar nicht hingehörten: in Schulen.
IQ steigt und sinkt je nach Förderung
In den 1960er- und 1970er- Jahren lehnten es viele als elitär ab, besonders Begabte zu fördern. Das wirkt bis heute nach. Hartnäckig hält sich zum Beispiel die Ansicht, dass die schwächsten Kinder davon profitieren würden, wenn sie mit den intelligenten gemeinsam unterrichtet würden. Das Gegenteil aber sei der Fall, sagt Tanja Gabriele Baudson. Sie drohten abgehängt zu werden.
Und noch ein Argument wird von den Förderungsskeptikern oft angeführt: dss überhaupt keine Notwendigkeit bestünde, die Klügsten eines Jahrgangs zu fördern, denn sie seien ja schon intelligent. Sehr hohe Intelligenz müsse als Potenzial gesehen werden, sagt Tanja Gabriele Baudson. Ein Potenzial, das zwar angeboren ist, aber nicht automatisch ein Leben lang konstant bleibt.
Die Intelligenz, ja sogar der gemessene IQ eines Menschen, kann je nach Förderung steigen oder sinken. Allerdings nur innerhalb gewisser Grenzen. Eine Hochbegabung lässt sich niemandem antrainieren, der nicht die entsprechenden genetischen Anlagen dazu hat. Wenn hochbegabte Kinder aber dauerhaft unterfordert sind, müssen sie sich auch kaum anstrengen. So lernen sie nicht richtig, wie Lernen geht, und können ihr Potenzial kaum ausschöpfen.
Lehrkräfte fördern hauptsächlich Jungen aus deutschen Akademikerfamilien
Unterforderung ist nur eines der häufigen Probleme von Hochbegabten. Vielen Kindern wird aufgrund ihrer Herkunft gar nicht erst zugetraut, besonders intelligent zu sein. Das ist in Deutschland besonders oft bei Kindern bestimmter Gruppen der Fall.
Dazu gehören Kinder mit Migrationshintergrund oder Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien. Gerade die Schwellen und Übergänge in eine nächste Stufe oder Schulform oder die Hürde, an eine Hochschule zu wechseln, sind es, an denen Hochbegabte aus weniger privilegierten Milieus in Deutschland oft scheitern.
Es kommt oft vor, dass Lehrkräfte ein Kind mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status unbewusst weniger unterstützen. Diese Kinder sehen nicht so aus, sie sprechen oder geben sich nicht genau so, wie viele Lehrkräfte sich eine hochintelligente Schülerin oder einen hochintelligenten Schüler vorstellen. Tanja Gabriele Baudson nennt das ein „Passungsproblem“ – ein hochbegabtes Kind wird von seiner sozialen Umgebung nicht oder nur schwer akzeptiert.
Solche Passungsprobleme können gravierende Folgen wie Depressionen, Angststörungen und Stress haben. Und das nicht als Resultat aus der Hochbegabung, sondern aus der fehlenden Förderung.
Gleiche Voraussetzungen – dennoch wird Intelligenz meist mit Jungs assoziiert
Es gibt noch eine weitere, sehr große Gruppe von Kindern, die Gefahr laufen, nicht als hochbegabt erkannt und gefördert zu werden: Mädchen. Eine besondere Intelligenz und hohe Begabungen scheinen auch heute noch eher mit dem männlichen Geschlecht assoziiert.
Jungen werden zwei- bis dreimal so häufig in Begabtenberatungsstellen vorgestellt. Sie werden häufiger als hochbegabt identifiziert und kommen öfter in den Genuss von Fördermaßnahmen, obwohl beide Geschlechter gleich häufig von einer Hochbegabung betroffen sind. Und auch, welche Fachgebiete einen hohen gesellschaftlichen Status genießen, ist verbunden mit dem Geschlecht.
Methoden zur Förderung von hochbegabten Kindern und Jugendlichen
Nur wenige Bundesländer, nämlich Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Bayern und Sachsen, haben Spezialschulen für hochbegabte Kinder und Jugendliche sowie eigene Begabtenklassen innerhalb der Regelschulen. Häufiger jedoch ist, dass die hochbegabten Jugendlichen nicht vollständig von ihren Klassen getrennt werden, sondern zusätzliche Förderangebote erhalten. So genannte „Enrichment“-Maßnahmen, also vertiefende und erweiterte Maßnahmen.
Deutschlandweit gibt es zudem ein Netz an Wettbewerben, die vor allem mit Mitteln des Bundesbildungsministeriums getragen werden. Diese fördern aber nicht kontinuierlich, sondern nur punktuell. Allgemein lässt sich feststellen: Bei der Hochbegabtenförderung in den Regelschulen sind die einzelnen Bundesländer noch unterschiedlich gut aufgestellt.
Unabhängig von Sonderklassen, speziellen Schulen oder Förderprogrammen, gäbe es aber ein Instrument, um hochbegabte Schülerinnen und Schüler schnell und unkompliziert zu fördern, sagt Dr. Ingmar Ahl von der Karg-Stiftung, die die Lernbedingungen für Hochbegabte verbessern möchte, und zwar die sogenannte Akzeleration. Damit können Bildungsstationen schneller durchlaufen oder übersprungen werden.
Hauptprobleme: Gerechtigkeitslücke und zu späte Förderung
Hauptproblem der deutschen Hochbegabtenförderung ist und bleibt aber für Ingmar Ahl die Gerechtigkeitslücke für Mädchen, Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwachen Milieus. Denn dass zwei Prozent aller Kinder hochbegabt sind und zehn Prozent ein überdurchschnittliches Potenzial besitzen, spiegelt sich nicht in den Maßnahmen der Förderprogramme wieder.
Der wichtigste Schlüssel zur Verbesserung der Hochbegabtenförderung seien gar nicht besondere Schulformen oder andere separierende Maßnahmen, wie man vielleicht denken könnte. Expertinnen wie Ingmar Kahl plädieren vielmehr für eine flächendeckend gute individuelle Förderung an den regulären Schulen. Dreh- und Angelpunkt seien dabei gut ausgebildete pädagogische Bezugspersonen und Berater.
Für Ingmar Ahl haben qualifizierte Informationsangebote, Aus-, Fort- und Weiterbildungen für diese Berufsgruppen allerhöchste Priorität. Das Thema Hochbegabung sei auch heute noch in den Ausbildungsgängen dieser Berufsgruppen nicht verankert. Das müsse sich dringend ändern. Außerdem sei Hochbegabtenförderung kein Thema nur für die Bildungselite am Gymnasium. Vielmehr müsse sie allumfassend und früher im Bildungssystem verankert werden, weg von nur dieser einen Schulform.
Am Ende solle jeder Kindertagesstätte, jeder Grund- und weiterführenden Schule klar sein, dass sie auch für die Identifizierung und Förderung hochbegabter Kinder zuständig sei. Und zwar bei Kindern aus allen Elternhäusern – damit viel mehr hochbegabte Kinder und Jugendliche die Lernbedingungen bekommen, die zu ihnen passen und die ihnen gut tun.
SWR 2020
Literatur
- Franzis Preckel und Tanja Gabriele Baudson: Hochbegabung. C.H. Beck 2013
- Elsbeth Stern und Aljosha Neubauer: Intelligenz – Große Unterschiede und ihre Folgen. DVA 2013