Kultspiel Schach – jahrhundertealt und weltweit gespielt
Zwei Spieler, die sich gegenübersitzen, hochkonzentriert, ihre Blicke auf das Spielbrett dazwischen: 64 quadratische Felder, Schwarz und Weiß, immer im Wechsel. Darauf 16 Figuren, meist künstlerisch geschnitzt: acht Bauern, zwei Türme, zwei Springer, zwei Läufer, eine Dame und ein König. Und jede der Spielfiguren hat eine bestimme Art und Weise, wie sie gezogen werden darf.
Eine klassische Schachpartie kann sich wohl jeder vorstellen. Zwar sind die genauen Ursprünge des Spiels umstritten, sicher ist: Sein Vorläufer, das dem heutigen Schach sehr ähnelt, wurde bereits im 6. Jahrhundert in Indien gespielt und verbreitet. Auch der Name des Spiels ist jahrhundertealt. Er kommt aus dem Persischen: "Shah" bedeutet so viel wie "König".
Seither hat sich das "Königsspiel" auf der ganzen Welt etabliert: Millionen Menschen weltweit spielen Schach. Als Zeitvertreib, als Hobby, als Sport. Schach wurde Teil unserer Kultur. Deutsche Sprichwörter wie "jemanden in Zugzwang bringen" oder "Schachmatt setzen" verraten das.
Schachbretter ausverkauft, Online-Plattformen boomen
Insbesondere im Corona-Lockdown wurde Schachspielen zum beliebten Zeitvertreib. Spätestens aber die Netflix-Serie "Damengambit" löste einen regelrechten Schach-Hype aus. 62 Millionen Zuschauende machten die Serie zeitweise zur meist geklickten auf Netflix.
Dabei bedient sich die Geschichte um Beth Harmon, ein Waisenkind mit herausragendem Talent im Schach, nun wirklich aller Klischees, die es von Schachspielerinnen und Schachspielern gibt: Eine geniale Einzelgängerin, dem Irrsinn nahe, ihr ganzes Leben darauf ausgerichtet, ihren ultimativen Gegner zu schlagen. Sie ist sozial inkompetent und wird trotzdem bewundert, weil diese enorme Denkleistung, die sich auf dem Schachbrett darbietet, fasziniert.
Hochkomplexes Spiel: 10 hoch 120 Schachpartien sind möglich
Denn so simpel die Grundregeln sind: Das Schachspiel wirklich zu beherrschen dauert Jahre und viele Stunden an Übung. Der Ausgang eines Schachspiels ist nicht vorhersehbar und dass eine Spielerin in ihrem Leben jemals zufällig zweimal das gleiche Spiel spielt, nahezu unmöglich.
Stefan Kindermann kann das bestätigen. Der Schachgroßmeister spielte 20 Jahre lang als Profi, nahm an acht Schacholympiaden teil und war neun Mal deutscher Mannschaftsmeister mit der Schachmannschaft von Bayern München. Er verdeutlicht die Komplexität des Spiels anhand der sogenannten Shannon Number: 10 hoch 120 – das ist die Anzahl der möglichen Schachpartien. Claude Shannon war ein US-amerikanischer Mathematiker. Zum Vergleich: Die Zahl der Atome im bekannten Universum beträgt 10 hoch 84, also deutlich weniger.
Konzentrieren, entscheiden, mit Frustration klarkommen
Jeder Zug kann über den Ausgang des Spieles entscheiden, jeder Fehler den Sieg kosten. Die Schwäche des Gegners kann zur eigenen Stärke werden, wenn man sich keinen Patzer erlaubt. Welche Eigenschaften muss ein Spieler oder eine Spielerin mitbringen, um überhaupt erfolgreich zu sein?
Schachgroßmeister Stefan Kindermann, der vor 15 Jahren selbst eine Schachakademie gegründet hat, zählt auf: Zuallererst Konzentrationsvermögen und die Fähigkeit, unter Zeitdruck schnelle und gute Entscheidungen zu treffen. Dazu Voraussicht über mögliche Züge des Gegenübers, eventuelle Fehler und Hindernisse. Außerdem, so unterstreicht er, sehr viel Frustrationstoleranz.
Alles Eigenschaften, die auch abseits des Schachbretts sehr hilfreich sind. Davon ist Kindermann überzeugt. So profitierten auch Führungskräfte von der Logik des Schachspiels, insbesondere im Entscheidungsverhalten.
Schachspiel fasziniert Intelligenzforschung seit langem
Dass Schach und logisches Denken zusammenhängen, vermutete bereits Alfred Binet Ende des 19. Jahrhunderts. Der Franzose, der später den ersten Intelligenztest entwickelte, interessierte sich in seiner Forschung insbesondere für Blindschachspieler. Sie verzichten auf Brett und Figuren und führen ihre Züge stattdessen nur im Kopf aus. Beim Spiel werden lediglich die gewählten Buchstaben-Zahlen-Kombinationen diktiert, in etwa a2 zu a3 oder e2 zu e4.
Alfred Binets Ergebnissen zufolge haben Blindschachspieler eine außergewöhnlich gute räumliche Vorstellungskraft und Erinnerungsfähigkeit. Allerdings basierte seine Studie auf eigens formulierten Antworten der Profischachspieler und auch die Stichprobe von 62 Befragten war recht klein. Doch obwohl das die Aussagekraft von Binets Umfrage schmälert, gilt sie als Anstoß für ein neues Forschungsfeld in der Psychologie und Verhaltenswissenschaft: Der Mensch und das Schachspiel.
Übung oder Intelligenz – was setzt schachmatt?
Auch Nemanja Vaci von der britischen Universität Sheffield sieht hier großes Potenzial. Für ihn ist das Schachbrett ein ideales Forschungsumfeld: Einfache Regeln, aber eine unendliche Anzahl an Möglichkeiten. Das erlaube, so der Psychologe und Statistiker, Denkprozesse zu quantifizieren, also messbar zu machen. Beispielsweise über die sogenannte Elo-Zahl, die die Stärke der Spielenden bewertet.
In einer Studie untersuchte Nemanja Vaci, wie die beiden Variablen Intelligenz und Schach zusammenhängen. Er ging der Frage nach, ob hervorragende Schachspielerinnen und -spieler deshalb so gut sind, weil sie sich besonders gut im Schach auskennen oder weil sie besonders intelligent sind. Bis dahin fehlten dazu belastbare Studien.
Diese Forschungslücke konnte Vaci jetzt füllen: Die jeweilige Bedeutung von Übung und Intelligenz beim Schachspielen ändert sich im Lauf des Lebens. Am Anfang der Karriere sei es wichtig, viel zu üben. Das könne einen geringeren Intelligenzquotienten wett machen, sodass man sogar besser werden könne als andere, die zwar intelligenter sind, aber weniger geübt haben.
Später, so Vaci, sei das anders: Je älter die Probanden in seiner Studie waren, desto besser spielten sie Schach, wenn sie intelligenter waren. Im Alter konnten die weniger intelligenten Teilnehmenden ihre Schach-Skills durch viel Üben nicht mehr verbessern und die klügeren waren im Vorteil.
Heißt das also, Schachspielen fördert doch nicht die Intelligenz? Nemanja Vacis Studie konnte das zumindest nicht bestätigen. Trotz erster Ernüchterung steht weiterhin fest, dass wir vom Schach profitieren können.
Leistungsschwache Kinder scheinen vom Schach zu profitieren
Auch die Burmesterschule in München ist von einem positiven Effekt überzeugt. Einmal pro Woche kommt Schachlehrer Felix Brychcy in die Grundschulklassen. Sie ist nur eine von vielen Schulen, in denen Schachunterricht stattfindet. Schach als Pflichtfach, fest integriert im Stundenplan. Nachdem Deutschland vor 20 Jahren bei der internationalen PISA-Studie sehr schlecht abgeschnitten hatte, überlegten sich Schulen und Kultusministerien, wie die schulischen Leistungen verbessert werden können. Für einige war die Antwort: durch Schach.
Ob Schachspielen tatsächlich die schulischen Fähigkeiten der Kinder verbessert, dazu fehlen eindeutige Ergebnisse. Allerdings legt eine erste Feldstudie der Universität Trier nahe, dass vor allem leistungsschwache Kinder vom Schachspielen profitieren. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Schachstiftung wurde das über zwei Jahre an zwei deutschen Grundschulen untersucht. Wegen der Unterrichtseinschränkungen im Corona-Jahr seien für belastbare Aussagen jedoch weitere systematische Untersuchungen nötig.
Schach kann Soft Skills schulen
Die Lehrerin Kathrin Koschella zweifelt noch ein bisschen an klaren Effekten. Das begründet sie jedoch auch in der Organisation des Unterrichts an der Burmesterschule, die nicht optimal zum Schachlernen sei. Kleinere Gruppen, mehr Zeit, ganz ohne Leistungsdruck und Noten, so Koschella, dann würde es sich wahrscheinlich schon positiv auf die Konzentration auswirken.
Felix Brychcy und Stefan Kindermann sind hingegen fest überzeugt. Schachspielen ist für sie eine Art Lebensschule, vor allem für Kinder: Erst nachdenken, vorausschauen, dann den Zug machen. Fehlzüge aushalten. Den Kopf einschalten, nicht die Fäuste. All das fördere die Entscheidungsfähigkeit und Frustrationstoleranz der Heranwachsenden.
Wer viel übt, kann viel erreichen
Es lässt sich zwar nicht zeigen, dass Schach wirklich intelligenter macht. Dennoch lohnt sich das Spiel ums Schachmatt. Insbesondere bei Kindern kann das Schachspielen viele Soft Skills fördern. Außerdem zeigen die aktuellen Ergebnisse im Umkehrschluss: Wer wirklich will, kann zum Schachprofi werden, man muss nicht zwingend ein kleiner Einstein sein – dann gilt es: Wer viel übt, kann viel erreichen.
SWR 2021