Gedichtet hat das Lied ein Geistlicher aus Trier Ende des 16. Jahrhunderts. Eine Prophezeihung des Jesaja diente ihm als Inspiration für dieses Rätsellied. Bei Jesaja heißt es: "Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihn". Aus dem Reis machte der Dichter eine Rose, Isai wurde eingedeutscht zu Jesse und aus der Frucht wurde ein Blümlein. Und das mit dem kalten Winter und der Nacht, das ist dichterische Freiheit.
Wurzel oder Blume?
Soweit also das Rätsel: Wer ist die Wurzel, wer die Rose und wer ist die Blume? Der Dichter lieferte die Auflösung gleich mit – in der zweiten Strophe. Also, alles klar: die Wurzel, das ist der Stammvater Israels, Jesse – der Vater Davids. Das Reis oder die Rose, das ist Maria. Ein wunderbares Wortspiel für einen lateinisch denkenden Mönch, denn lateinisch virga heißt Reis (oder Sproß) und virgo heißt Jungfrau. Und das Blümlein, das Maria hervorgebracht hat, das ist natürlich Jesus. Um das Wunder dieser Geburt zu betonen, hat der unbekannte Dichter hinzugefügt: Aus Gottes ew'gem Rat, hat sie ein Kind geboren und blieb doch reine Magd.
Im Ursprung ein Marienlied
Und dann ging es diesem Lied wie bei dem Spiel "Stille Post". Es wurde entlang von Mosel und Rhein bekannt und bekam auch eine Melodie sowie achtzehn weitere Strophen. Ende des 16. Jahrhunderts muss es der Speyrer Weihbischof bei einem Besuch in der Karthause Mainz kennengelernt haben. Es scheint ihm gut gefallen haben, denn er nahm es mit und sorgte dafür, dass es in das Gesangbuch der Erzdiözese Speyer aufgenommen wurde. So kann man mit einigem Recht sagen: "Es ist ein Ros entsprungen" ist ein Lied aus Rheinland-Pfalz – gedichtet in der Gegend von Trier und erstmals gedruckt im Speyrer Gesangbuch von 1599.
Auf die Melodie, die wir heute kennen, sind dort über 20 Strophen abgedruckt. Die ganze Geschichte von der Verkündigung über den Besuch bei der schwangeren Elisabeth, der Herbergssuche und Geburt bis zur Beschneidung und dem Besuch der Weisen aus dem Morgenland findet man in dieser Fassung. Den Schluss bilden drei Strophen mit Fürbitten an die Jungfrau Maria. "Es ist ein Ros entsprungen" war damals also ein Marienlied, bei dem das weltliche oder geistliche Volk kräftig mit gedichtet hat.
Es verbreitete sich schnell im katholischen Raum und findet sich innerhalb kürzester Zeit in vielen Gesangbüchern in ganz Deutschland. In katholischen Gesangbüchern wohlgemerkt – denn für Protestanten war dieses Lied mit seiner Zentrierung auf Maria völlig uninteressant. Bis Michael Praetorius auf dieses Lied stieß, dem Text in der zweiten Strophe eine entscheidende neue Wendung und damit dem Rätsel eine neue Auflösung gab. War vorher das Reis oder die Rose Maria und das Blümlein Jesus, so ist bei Praetorius jetzt das Reis oder die Rose identisch mit dem Blümlein – nämlich Jesus.
Schnelle Verbreitung
Damit wird die Rolle Marias in diesem Lied zurückgedrängt und der Fokus auf Christus gerichtet. In dieser Fassung verbreitete sich das Lied auch unter Protestanten – geriet dann aber im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts in Vergessenheit. Erst die Volksliedforscher entdeckten es hundert Jahre später wieder und druckten es in der zweistrophigen Fassung von Michael Praetorius in ihre Liedersammlungen. Das Lied galt jetzt als geistliches Volkslied und wurde nur zögerlich in die Kirchengesangbücher aufgenommen. Vereinzelt findet es sich in katholischen Gesangbüchern im 19. Jahrhundert – so richtig durchgesetzt aber hat es sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts und dann auch bei den Protestanten.
Die Tatsache, dass die Nationalsozialisten versuchten, eine ideologisch und völkisch gefärbte Umdichtung zu etablieren, zeigt: dieses Lied war aus dem Weihnachtsliedrepertoire nicht mehr wegzudenken.
Viele Komponisten haben "Es ist ein Ros entsprungen" neu vertont – aber ohne nennenswerten Erfolg. Das Original ist zu gut. Und der vierstimmige Satz von Michael Praetorius gehört beinahe untrennbar dazu. Egal ob Posaunenchor, Lauttenkompagney oder Gesangsverein – alle spielen oder umspielen Praetorius. Und was den Text angeht, so existieren die unterschiedlichsten Fassungen friedlich nebeneinander. Häufig wird den ersten beiden Strophen noch eine dritte angefügt : "Das Blümelein so kleine das duftet uns so süß", die Pastor Friedrich Leyritz Mitte des 19. Jahrhunderts gedichtet hat.