„Hurt“: Ein musikalisches Vermächtnis
Würdevoller hätte sich Johnny Cash nicht verabschieden können: Wenige Monate vor seinem Tod am 12. September 2003 veröffentlicht er das Musikvideo seiner Single „Hurt“.
Alt und von langer Krankheit gezeichnet singt der einstige Country-Star da vom Ende des Lebens. Frei von Pathos, reduziert auf Akustikgitarre, Klavier und seine begnadete Stimme.
Gemeinsam mit dem legendären Musikproduzenten Rick Rubin schuf Johnny Cash mit „Hurt“ einen Song über Schmerz, Reue und Einsamkeit, der brutal ist in seiner Ehrlichkeit. Es ist gewissermaßen sein musikalisches Vermächtnis, das ihn weltberühmt machte.
Kurz vor seinem Tod befindet sich Johnny Cash auf einer Welle des Erfolgs und auf dem Höhepunkt seines kreativen Schaffens. Keine zehn Jahre zuvor hätte das dem früheren Country-Star niemand zugetraut.
1994: Johnny Cash am Tiefpunkt seiner Kreativität
Anfang der 1990er-Jahre gilt Johnny Cash dank bahnbrechender Songs wie „Ring of Fire“ oder „Folsom Prisom Blues“ als lebende Legende der Countrymusik. Doch einen künstlerischen Coup, der an seine Erfolge der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre anknüpfen könnte, hat er schon lange nicht mehr gelandet.
In Liebhaber-Kreisen weiterhin ein großer Name, ist Cash für das jüngere Publikum bedeutungslos geworden. Als der Musikproduzent Rick Rubin 1994 auf ihn aufmerksam wird, hat Cash nicht einmal mehr einen Plattenvertrag.
Legendär: Johnny Cashs Gefängnis-Album „At San Quentin“
Rick Rubin, das musikalische Mastermind
Rubin, der legendäre Musikproduzent mit dem weißen Rauschebart, gilt als musikalisches Genie. Sein Einfluss auf die zeitgenössische Popmusik: unermesslich.
Die Liste der Künstler*innen, deren Alben Rubin produziert hat, ist so lang und so prominent, dass Jay-Z, Adele und die Red Hot Chili Peppers als Auswahl reichen müssen.
Man sagt über Rubin, er habe den Hiphop erfunden. Er nahm Anfang der 1980er-Jahre, mit gerade einmal Anfang zwanzig, die unbekannten Rapper Public Enemy, LL Cool J und die Beastie Boys bei seiner damaligen Plattenfirmer Def Jam unter Vertrag und brachte damit Rapmusik groß raus.
Beck und Depeche Mode statt Country
Rick Rubin ist es zu verdanken, dass heute, zwanzig Jahre nach seinem Tod, jeder den Namen Johnny Cash kennt.
Rubin ermutigt den früheren Country-Star dazu, musikalisch noch einmal ganz neu anzufangen. Johnny Cash beginnt, die Songs anderer Künstler zu interpretieren, deren Sound niemand mit ihm in Verbindung bringen würde: Beck, Depeche Mode, Nine Inch Nails, Nick Cave.
Cash verlässt sich auf seine Stimme
Mit Country hat das nicht mehr viel zu tun. Doch die Rechnung geht auf: Mühelos und stilsicher bewegt sich Johnny Cash zwischen den unterschiedlichsten Genres und drückt jedem einzelnen Song seinen ganz eigenen Stempel auf.
In seinem Spätwerk gelingt Cash, was viele Künstlerinnen und Künstler im Laufe einer langen Karriere nicht schaffen: sich künstlerisch noch einmal ganz neu zu erfinden.
Rick Rubin ermutigt Cash, sich des Erwartungsdrucks der Country-Szene zu entledigen und streift den auserzählten Country-Kitsch von ihm ab. Er reduziert Johnny Cash auf seine künstlerische Essenz: seine facettenreiche, sonore Stimme, begleitet von der Akustikgitarre. Das genügt.
Kreativitäts-Mantras eines Musik-Gurus
Die Reduktion aufs Wesentliche gilt als Rubins Spezialität. In einem Interview bringt er es auf den Punkt: Er bezeichne sich selbst lieber als „Reducer“ denn als „Producer“.
Ein Song sei nicht dann vollkommen, wenn es nichts mehr hinzu zu fügen gebe, sondern dann, wenn man ihm nichts mehr wegnehmen könne. Aller unnötigen Soundeffekte, Spielereien und Affekte entledigt, so Rubin, entfalte Musik ihren authentischen Geist.
Rick Rubin ist ein Musik-Guru. Sein kürzlich erschienenes Buch „Kreativ. Die Kunst zu sein.“ liest sich wie eine Achtsamkeits-Bibel. Rubin offenbart darin, was es brauche um ein Künstler zu sein: im Moment leben, loslassen, Erwartungen von sich abprallen lassen.
Cash-Verehrung bis heute
Johnny Cash ist das gelungen. Ab 1994 produziert er mit Rick Rubin vier Alben, die bei Rubins Label „American Recordings“ erscheinen.
Sie katapultieren ihn nicht nur zurück in die Weltöffentlichkeit, sondern brachten ihm auch aus der Pop-, Rock- und Rap-Szene Verehrung entgegen. Eine Verehrung, die bis heute anhält.