Der Journalist und Autor Stephan Lamby hat die aktuelle Bundesregierung in seiner Dokumentation "Ernstfall - Regieren am Limit" begleitet. Er hat die Politikerinnen und Politiker dafür in der ersten Hälfte ihrer Regierungszeit beobachtet und erzählt uns im SWR1 Interview von seinen Eindrücken.
SWR1: Herr Lamby, wie war es für Sie, das Kippen der Stimmung mitzuerleben?
Stephan Lamby: Dramatisch. Ich habe den Eindruck gehabt, dass alle mit den besten Vorsätzen an die Regierungsarbeit gegangen sind. Und das hielt dann ungefähr 100 Tage.
Einige hatten auch falsche Informationen, was die Absichten Russlands betrifft. Robert Habeck hat mir gesagt, dass der BND, der Bundesnachrichtendienst, ihm gesagt hat, dass es sich nur um eine Übung handele. Dann war er ganz schön überrascht, als es dann doch ganz anders kam.
Und dann mussten sie innerhalb weniger Tage, sogar weniger Stunden, mit den Gewissheiten aufräumen, die sich jahrelang in der deutschen Politik festgesetzt hatten: zum Beispiel keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete. Das war dramatisch.
Robert Habeck und Olaf Scholz ganz nah
SWR1: Plus dann noch die Versorgung in Deutschland zu sichern, Stichwort Gas. Ich meine einen Wirtschaftsminister Habeck, der neu im Amt ist und auf einmal tiefe Furchen im Gesicht hat. Man hat es ihm auch angesehen, oder?
Lamby: Ich glaube, bei keinem Regierungsmitglied konnte man das Auf und Ab so miterleben, wie bei Robert Habeck. Als ich mit den Dreharbeiten angefangen habe, war er ganz oben in den Zustimmungswerten. Dann kam die Krise um die Gasumlage. Dann hat er sich wieder nach oben gearbeitet.
Danach kam der bitter geführte Streit um das Heizungsgesetz und dann ist er wieder abgesackt. Nicht nur in den Umfragewerten, sondern auch in seinem eigenen Gefühlshaushalt. Jetzt pendelt er sich irgendwo in der Mitte ein. Aber das legt offen, was ihn zum Beispiel von Olaf Scholz unterscheidet.
SWR1: Wie sieht das der Kanzler? Er ist ja wegen seiner Art zu kommunizieren oft in der Kritik. Wie offen war er Ihnen gegenüber?
Lamby: Im Rahmen seiner Möglichkeiten. Er hat sich auf das Projekt eingelassen. Ich konnte ihn insgesamt sechs Mal interviewen, mal kurz für ein paar Minuten und dann auch sehr lang. Häufig auf Flügen. Ich bin sehr viel mit ihm durch die Welt gereist und er hat sich geöffnet.
Er bleibt natürlich ein vorsichtiger Mensch, der jedes Wort überlegt und abwägt, bevor er es ausspricht. Und das ist ja auch nachvollziehbar, denn es geht hier richtig um was. Er konnte und kann nicht wissen, wie Wladimir Putin auf die Entscheidungen und auf die Worte der Bundesregierung reagieren würde. Dass der Kanzler dann abwägt, ist gut nachvollziehbar.
SWR1: Auch zwischen den Regierungspartnern gab und gibt es immer wieder Krach und gegenseitige Vorwürfe. Wie haben Sie das erlebt?
Lamby: Das war in der Anfangsphase anders und das wurde dann so wie sie es beschreiben. Nachdem die Landtagswahlen im vergangenen Jahr und im Frühjahr diesen Jahres für die FDP ziemlich in die Hose gingen, hatte sich die Mannschaft um Christian Lindner vorgenommen, in der Regierung sichtbarer zu werden. Das ging häufig zulasten der Koalitionspartner und sorgte natürlich für schlechte Stimmung. Das hat sich jetzt ein bisschen beruhigt. Aber warten wir mal ab, wie sich das weiterentwickelt bei den bevorstehenden Landtagswahlen im Oktober.
Das Dreierbündnis hat Potenzial
SWR1: Ist das erste Dreierbündnis auf Bundesebene möglicherweise komplizierter als gedacht?
Lamby: Ich würde es anders formulieren: Darin steckt ein großes Potenzial. Für die Aufgaben, der sich die Regierung stellt, das Land in Richtung Klimaneutralität umzubauen, muss man in sehr unterschiedlichen Schichten und Kreisen der Bevölkerung wirken. Das können drei unterschiedliche Regierungspartner besser als zwei. Deshalb sehe ich zunächst mal das Potenzial.
Nach meinem Eindruck wird dieses Potenzial aber nicht ausreichend genutzt. Im Gegenteil, es erzeugt über lange Strecken eher eine negative als eine positive Energie innerhalb der Koalition.
SWR1: Und nach außen scheint es auch deshalb nicht zu funktionieren, denn die Umfragewerte sind ja immer weiter runtergegangen. Zum Teil entlädt sich ja regelrecht Wut. Ist das den Mitgliedern der Regierung eigentlich egal?
Lamby: Nein, wie sollte das egal sein. Jeder Politiker, der gewählt werden will, achtet auf solche Umfragen, das bereitet ihnen Kummer.
SWR1: Es gibt ja oftmals die Haltung: Man kriegt die Wut auf Demonstrationen mit, wo es dann heißt, die da oben, wir da unten und denen da oben ist doch egal, was wir denken...
Lamby: Nein also das wäre ein Irrglaube. Sie kriegen es mit und es ist ihnen überhaupt nicht egal. Nochmal, es stehen jetzt Landtagswahlen bevor. Da achtet man insbesondere auf Umfragewerte.
Und sie werden ja die Quittung auch bei den Landtagswahlen bekommen, wenn die Umfragewerte sich nicht wesentlich verändern. Ihnen ist es nicht egal und sie bekommen die zunehmende Wut auf der Straße auch mit. Dann nämlich, wenn sie sich selbst auf die Straße begeben, zu Veranstaltungen und demnächst zu Wahlveranstaltungen gehen.
So erholen sich die Politiker
SWR1: Das ist das eine: Ärger, Wut, Kritik aus der Bevölkerung. Aber das andere, das Krisenmanagement, das ist ja auch zehrend. Da brennt man doch aus. Wo holen sich die Politiker Auszeiten?
Lamby: Na ja, es ist so, dass diejenigen, die es bis an die Spitze der Politik schaffen, nicht nur politisch und mental, sondern auch physisch fit sein müssen. Ich glaube, da gibt es so eine Art Selektionsprozess. Also die, die es bis nach oben geschafft haben, die sind ziemlich fit und wenn sie wollen, auch ausgeschlafen. Sie machen Urlaub, so wie vermutlich Sie und ich auch Urlaub machen. Der Urlaub wird aber natürlich häufiger unterbrochen. Zum Beispiel durch Meldungen, auf die sie dann reagieren müssen.
Aber ich erinnere daran, Robert Habeck hat sich im August, als es um einen großen Streit um Kindergrundsicherung ging, überhaupt nicht zu Wort gemeldet. Da waren die Schotten dicht. Er wollte Urlaub machen. Also sie versuchen sehr wohl, sich zurückzuziehen. Allerdings haben die allermeisten mindestens eine sechs-Tage-Woche.
Und für mich ist es kein Job, den ich sehr lange machen könnte. Aber es scheint etwas zu geben, was es ihnen wert ist, sich diesem Druck auch über einen längeren Zeitraum auszusetzen. Ich erinnere nur an Angela Merkel, die sich diesem Druck 16 Jahre lang ausgesetzt hat.
Sie machen es ja freiwillig. Es hat sie niemand gezwungen. Und sie scheinen etwas dafür zu bekommen. Und das ist Respekt, das ist Zuneigung und natürlich auch die Möglichkeit, eigene Vorstellungen im Land umsetzen zu können.
Das Gespräch führte SWR1 Moderatorin Claudia Deeg.
Die Dokumentation "Ernsftall - Regieren am Limit" von Stephan Lamby können Sie am 11. September 2023 um 20:15 im Ersten ansehen.