Die Worte stammen von seinem Vater

Marcel Reif über seine "Sei ein Mensch"-Rede im Bundestag

Stand
Das Interview führte
Christian Balser
Interview mit
Marcel Reif
Onlinefassung
SWR1

"Sei ein Mensch." Das sind Worte, die Marcel Reif vor einem Jahr bei seiner Rede im Deutschen Bundestag zum Holocaust-Gedenktag an uns weitergegeben hat.

Der Sportmoderator Marcel Reif sprach 2024 bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Reifs Vater überlebte die Schoah. Im letzten Moment wurde Vater Leon Reif aus einem der Züge in Richung Konzentrationslager gerettet. Später gab er seinem Sohn Marcel den Satz "Sei ein Mensch" mit.

"Sei ein Mensch" kam von Marcel Reifs Vater

SWR1: Wie hat Ihr Vater es geschafft, Ihnen so mitfühlende Worte mitzugeben?

Marcel Reif: Er ist schon ein Held, oder? Ich finde es heldenhaft. Und das ist mir leider erst nach seinem Tod eigentlich richtig bewusst geworden.

SWR1: Weil er nicht darüber gesprochen hat?

Reif: Nein, er hat dieses "Sei ein Mensch" auch nicht vor sich hergetragen. Das hab ich nicht jeden Tag etwa dreimal gehört, sondern das kam beiläufig. Mir ist erst später klar geworden, dass er mir das als Botschaft weitergeben wollte. Und nicht Bitterkeit und nicht jeden Tag die Suche nach den Schuldigen.

Meine Schwester und ich sollten unbeschwert aufwachsen im Land der Täter, wenn man dann schon dahin zieht. Denn das war eine Entscheidung meiner Eltern. Da wollten sie uns, trotz allem, eine unbeschwerte Kindheit bescheren. Und das haben sie getan.

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Die Jugend von Marcel Reif in Israel

SWR1: Ihre Familie hat erlebt, was Antisemitismus anrichtet. Aus Ihrem Geburtsland Polen mussten Sie im Alter von sechs Jahren nach Tel Aviv. Mit acht Jahren kamen Sie nach Kaiserslautern. Wie war das für Sie und Ihre Familie in der Pfalz? 

Reif: Für mich war es eine nasebohrende, Nachkriegswirtschaftswunder, unbeschwerte, lustige, entspannte Kindheit. Aber für meine Eltern war das nicht so einfach. Es gab, wie ich später erfahren habe, in der Familie nicht wenige, die überlebt hatten. Und die nicht nachvollziehen konnten, dass man ins Land der Täter zieht. Aber mein Vater hat hier die Chance gesehen, ein neues Leben zu führen. Hier gab es noch Bekannte und den einen oder anderen Verwandten.

Mir ist das erst richtig um die Nase geweht, als ich so 18 bis 19 Jahre alt war. Da war ich nach dem Abitur in Tel Aviv bei meiner Tante und da saßen ihre Freundinnen. Die haben mir dann, dem kleinen Schnösel, mal richtig Vorwürfe gemacht. Wie kann man in diesem Land leben? Wie konnte dein Vater da hin ziehen? Ich war völlig überfordert.

Ich habe an dem Abend aber verstanden, dass das Menschen waren, die unter ihrer verlorenen, deutschen Heimat so litten. Erstens hatten sie überlebt. Da fühlt sich jeder Jude aus dieser Generation schuldig. Warum überlebe ich und nicht meine Kinder und Eltern? Das Zweite war, man hatte ihnen ihre Heimat genommen. Und sie haben nie begriffen, warum.

Marcel Reifs Rede im Bundestag 2024

Marcel Reif bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag am 31.01.24

SWR1: Haben Sie die Reaktionen auf Ihre Rede vor einem Jahr überrascht? Es gab damals viele Tränen im Bundestag. 

Reif: Dass das immer noch so nachhallt, das ist etwas, was mich fasziniert und was ich so nicht geplant hatte.

Blick auf die Bundestagswahl und die AfD

SWR1: Im Februar wird der Bundestag neu gewählt. Die AfD, eine in Teilen als rechtsextremistisch eingestufte Partei, liegt in Umfragen auf Platz zwei. Was macht das mit Ihnen? 

Reif: Das löst bei mir den Reflex, aus in jedem Gespräch, dass ich in dieser Beziehung führe, jedem sagen zu wollen: Erzählt mir nicht später wieder, ihr hättet es nicht mitgekriegt und es wird schon nicht so schlimm. Das hat man schon mal in Deutschland gesagt.

Ich habe, es ist gar nicht so lange her, in der Schule meiner Enkel, [...] den jungen Leuten gesagt: Niemand kann euch verantwortlich machen für das, was damals im deutschen Namen und von Deutschen getan wurde. Aber jeder kann euch wieder dafür verantwortlich machen – und ihr macht euch dann schuldig, wenn es sich wiederholt.

"Nie wieder" ist kein Appell, "Nie wieder" ist eine Tatsache. Wer mir sagt, das muss man anmahnen, kriege ich die Krätze.

Mit der AfD muss man sich politisch auseinandersetzen. Das sind nicht 30 Prozent Neonazis in diesem Lande, also ein Drittel der Bevölkerung. Wenn die Parteien in der Mitte stärker werden und ihren Job machen würden, wird es an den Rändern nicht so in die falsche Richtung ausfasern.

"Nie wieder" ist kein Appell, "Nie wieder" ist eine Tatsache. Wer mir sagt, das muss man anmahnen, kriege ich die Krätze. Ich muss gar nichts anmahnen. Wenn man "Nie wieder" als Mahnung versteht, hat man in diesem Land nichts begriffen. Und dann vertut diese zweite Chance, die dieses Land bekommen hat.

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"Sei ein Mensch" steht auf Bussen und Bahnen

SWR1: "Sei ein Mensch" – wie oft gehen Ihnen die Worte noch durch den Kopf, heute und auch an anderen Tagen?

Reif: Wenn ich in München den Nahverkehr benutze, ist das hinten auf den Bussen drauf. Der Oberbürgermeister hat mich damals gefragt, ob sie das für eine Kampagne nutzen könnten. An S-Bahnen und Bussen steht "Sei ein Mensch". Dann denke ich, das hat mein Vater gesagt, nicht ich – ist das nicht großartig? Mit mir macht das gar nichts. [...]

Diese Rede habe ich gehalten, weil ich etwas weiterzugeben hatte, als ich es endlich begriffen hatte. Aber das sind Worte, die nachhallen. Wenn diese Worte nicht nur Worte sind, sondern das verinnerlicht ist, ist "Sei ein Mensch" kein schlechter Kompass, wenn man das kurz wirken lässt.

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