Die Neckarsulmer Sport-Union war gerade mal zwei Jahre alt, als am 4. November 2011 der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund aufflog. "NSU" ist seitdem fast allen Menschen ein Begriff. Doch in Deutschland denkt dabei fast niemand an die erfolgreichen Schwimmer, die sich damals aufmachten, die olympische Bühne zu betreten, oder die Handballerinnen, die sich Stück für Stück von der 3. Liga bis fast in den Europa-Pokal kämpften. Das Kürzel NSU steht bundesweit eher für Rassismus, Neonazi-Terror und traumatisierte Hinterbliebene, denen die deutsche Mehrheitsgesellschaft auch noch das sprichwörtliche Messer in den Rücken rammte, nachdem sie bereits ihre Angehörigen verloren hatten.
Nicht so in Neckarsulm. Da hat NSU noch eine ganze andere Bedeutung. Seit sich die "NSU Motorenwerke" 1880 - damals noch unter anderem Namen - in Neckarsulm niedergelassen haben, steht das Kürzel für Heimat, Fortschritt und gute Arbeitsplätze. Zwar ist der Name nach der Übernahme durch den Autobauer Audi Stück für Stück verschwunden. Aber als 2009 die Sportvereinigung Neckarsulm und die Sportfreunde Neckarsulm zu einem Verein fusionierten, nannte der sich gerne NSU - bis eben zu jenem 4. November 2011.
Die Sport-Union war mit der Situation überfordert
Schon damals beschäftigte die Sportlerinnen und Sportler (heute sind es etwa 3.000 in 15 Abteilungen von Badminton bis Volleyball) die Frage, ob sie sich fortan noch NSU nennen können. "Damals hat der Verein versucht, gemeinsam mit der Firma Audi dagegen vorzugehen und sich das Kürzel schützen zu lassen", sagt der heutige Geschäftsführer Kai Stettner. "Die Firma hat das jedoch als nicht so wichtig erachtet. Und alleine hat man sich das ehrlicherweise als damals noch kleiner Verein nicht wirklich getraut."
Auch der Aufwand, sich einen neuen Namen zu geben, schien dem jungen Verein damals zu groß. Schließlich ist es mit einem schicken neuen Logo nicht getan. Der "neue" Verein hätte auch gleich eine neue Webseite, neue Flyer, neue Schilder, neue Poster, neue Trikots - ja sogar neue Verträge und einen neuen Eintrag ins Vereinsregister - gebraucht. Irgendwann habe sich das Thema auch wieder beruhigt, sagt Stettner.
Sportliche Erfolge brachten Umbenennung wieder auf Agenda
Doch nun, zehn Jahre später, ist das Thema wieder virulent. "Ich glaube, die Gründe dafür sind zweigeteilt", meint Stettner, "einerseits durch die Corona-Situation, wo es eine ganze Reihe unzufriedener Menschen gab, andererseits aber auch durch die sportlichen Erfolge, die wir die vergangenen anderthalb Jahre hatten." Denn plötzlich kam das Fernsehen nach Neckarsulm. "Wir hatten Live-Übertragungen auf Eurosport von den Heimspielen unserer Handballerinnen und hatten vermehrt Auftritte unserer Schwimmer in der ARD und im ZDF. Und da kam häufig das Argument auf: 'Wir können Euer Logo nicht zeigen', beziehungsweise 'wir wollen Euer Logo nicht zeigen'."
Sportler wurden auf NSU-Outfits angesprochen
"Wir haben dann auch das Gespräch mit unseren Abteilungen gesucht. Und dabei kam dann eigentlich erst heraus, dass auch viele unserer Sportler in verschiedensten Situationen angegangen wurden", sagt Stettner. "Sei es bei ganz banalen Dingen, als Leute im NSU-Trainingspulli im Supermarkt angepöbelt wurden, sei es bei Wettkämpfen, wo wir teilweise großartige Erfolge einfahren haben; aber die erste Frage war dann: 'Warum hast du das Kürzel NSU auf Deiner Brust?' Und nicht: 'Wie hast du diese Leistung vollbracht?'."
Das nagt - am Selbstverständnis der Sportler und am Selbstverständnis des Vereins. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von "Mikrotraumata". Jedes für sich genommen nicht der Rede wert. Aber irgendwann nervt's. "Und das sind dann einfach viele Punkte, die uns letztlich dazu bewogen haben, a) unser Logo zu ändern und b) im zweiten Schritt die Umfirmierung zu besprechen", beschreibt Stettner die Beweggründe.
Das neue Logo gibt es bereits seit Sommer. Darauf nennt sich die Neckarsulmer Sport-Union bereits Sport-Union Neckarsulm. Für das neue Corporate Design habe der Verein "eine mittlere sechsstellige Summe investiert", sagt Stettner. Bei der Mitgliederversammlung am 3. November will der Verein den neuen Namen auch formell in seine Satzung übernehmen. "Das wird sicher nochmal eine kontroverse Diskussion geben, aber ich gehe mal stark davon aus, dass es trotzdem keinen Widerspruch geben wird. Denn letztlich geht es ja nur um eine Umordnung unseres Namens, um nicht mehr in die Bredouille zu kommen, das Kürzel NSU zu nutzen."
Viele im Verein tragen die NSU noch immer im Herzen
Menschen wie Rolf Härdtner hat bei der Nachricht das Herz geblutet. Der Vorstandsvorsitzende, der den Verein maßgeblich geprägt hat und Neckarsulm auch sonst im Herzen trägt, fiel der Abschied von der NSU schwer - auch, wenn letztlich "nur" ein paar Buchstaben hin- und hergeschoben werden. Ob man fortan auch die Logos sämtlicher NSU-Motorräder abkleben müsse, weil da ein paar Neonazis Amok gelaufen sind, sei eines der Argumente, die Stettner häufig hörte, wenn er mit Kritikern über die Idee diskutiert hat. Mittlerweile hätten sich die meisten jedoch sich überzeugen lassen, "schließlich taten sich auch einige Sponsoren schwer, als 'stolzer Partner der NSU' aufzutreten", sagt Stettner.
Olympia-Schwimmer Henning Mühlleitner sieht die Sache pragmatischer: "Ich habe das gar nicht miterlebt, was NSU für die Stadt damals bedeutet hat - vom ersten Fahrrad, über die Fahrzeug-Produktion bis zur Übernahme durch Audi. Das liegt so weit in der Vergangenheit für mich, dass ich da gar keinen großen Bezug habe", sagt der 24-Jährige. Das neue Logo nennt er "eine erfrischende Veränderung".
Als die Nazi-Terroristen 2011 aufflogen, war er 14 Jahre alt. "Ich denke, der Großteil der Leute, die auf Schwimmwettkämpfen herumlaufen, hat keine Ahnung, was NSU auch noch bedeuten könnte. Deren Trainer vielleicht. Aber ich hatte damit keinerlei ernsthafte Konfrontationen", sagt der Olympia-Vierte über 400 Meter Freistil von Tokio 2021. "Und wenn doch mal einer ankam, dann meist sehr ironisch." Die Probleme bei den Live-Übertragungen habe er erst im Nachhinein mitbekommen.
Ein schmerzhafter Schritt für eine bessere Zukunft
Geschäftsführer Kai Stettner hatte nach den großen TV-Auftritten jedoch die volle Anti-NSU-Breitseite zu spüren bekommen. Sei es durch Briefe und Mails an die Vorstands-Etage oder in Kommentaren auf den diversen Social-Media-Kanälen. "Und das tut irgendwann auch weh, wenn du große Erfolge hast, dich aber nicht so präsentieren kannst, wie du eigentlich bist."
Aber es geht den Neckarsulmern nicht nur um Herkunft, Identität und Political Correctness. Am Ende war es auch das Kleinklein der täglichen Arbeit, das gegen den alten Namen sprach. So ließ sich zum Beispiel die Homepage der Neckarsulmer nicht mehr verlinken, weil das Kürzel NSU gesperrt war. Auch auf Social Media hatte das Kürzel einen technischen Sperr-Vermerk. Auf Dauer lässt sich so kein ambitioniertes Unternehmen führen. Das weiß auch Stettner: "Wir wollen sportlich weiterhin erfolgreich sein und noch erfolgreicher werden. Und da blieb uns letztlich keine Wahl, als uns vom Kürzel NSU loszusagen, auch wenn der Schritt für viele schmerzhaft ist."