Monatelang war die 50 in Sachen Corona eine fast magische Zahl - ab dieser Inzidenz pro 100.000 Menschen galten strenge Schutzregeln. Das dürfte sich bald ändern. Gesundheitsminister Jens Spahn sagte am 23. August, die 50-er Inzidenz habe ausgedient. Auch sein CDU-Parteikollege Armin Laschet sieht das so. Die 7-Tage-Inzidenz in seinem Heimatland Nordrhein-Westfalen liegt immerhin auch schon über 100.
Künftig sollen Beschränkungen im Infektionsschutzgesetz an der Zahl der Covid-Patient*innen bemessen werden, die in einem definierten Zeitraum ins Krankenhaus müssen. Der Vorschlag hat viel Zustimmung geerntet, aber auch deutliche Kritik. SWR-Medizinredakteurin Ulrike Till findet die geplante Abkehr von der Inzidenz problematisch:
Hospitalisierungsinzidenz soll neuer Maßstab für Einschränkungen sein
Bald soll es also egal sein, ob die Inzidenz bei 50, 100 oder 200 liegt. Wirklich? "200 ist die neue 50" hat Jens Spahn vor einer Weile gesagt. Sollen bei solchen Werten dann tatsächlich Großveranstaltungen mit Tausenden von Teilnehmern erlaubt bleiben? Und was ist, wenn die Fallzahlen noch sehr viel höher steigen, auf 400 oder gar 800?
Entscheidender Maßstab auch bei hohen Inzidenzen soll künftig die "Hospitalisierungsinzidenz" sein: Der Wert gibt an, wieviele von 100.000 Menschen innerhalb einer Woche neu mit Covid ins Krankenhaus kommen. Wenn dieser Wert über 10 steigt, wird es brenzlig. Davon sind wir im Moment mit rund 1,3 noch weit entfernt. Und dank der Impfungen können wir uns diesen Herbst tatsächlich deutlich höhere Inzidenzen leisten als im Vorjahr, ohne dass das Gesundheitssystem ans Limit kommt.
Zahl jüngerer Covid-Patient*innen im Krankenhaus steigt
Krankenhausrate statt Inzidenz, das scheint also erstmal vernünftig. Der vermeintlich simple Vorschlag hat aber gleich mehrere große Haken: Wenn wir warten, bis die Kliniken wieder volllaufen, nehmen wir viele schwere Verläufe und Todesfälle in Kauf. Diesmal wird es vor allem Menschen in der Mitte des Lebens treffen - schon jetzt steigt die Zahl der Covid-Patienten im Krankenhaus vor allem bei Menschen zwischen 35 und 59 stetig an.
Hospitalisierungsinzidenz immer zeitverzögert
Die Einweisung in die Klinik passiert aber im Schnitt erst rund zwei Wochen nach der Diagnose - die Inzidenz ist hier ein zentraler Warnwert. Das haben auch RKI-Chef Lothar Wieler und führende Intensivmediziner immer wieder betont. Die Inzidenz zeigt, wo wir hinsteuern - es wäre leichtfertig, sie jetzt einfach in die Tonne zu treten. Auch deshalb, weil die Gesundheitsämter laut RKI schon jetzt nicht mehr alle Infektionsketten nachvollziehen können.
Exponentielles Wachstum heißt, die Kontrolle zu verlieren
Die vielgescholtene 50er Inzidenz war ja mal der Wert, ab dem die Nachverfolgung nicht mehr klappt - daran hat sich leider gar nichts geändert. Wenn wir das exponentielle Wachstum jetzt einfach laufen lassen, sind wir schnell an dem Punkt, an dem wir die Kontrolle verlieren - dann könnten doch wieder harte Einschnitte nötig werden.
Und es gibt noch ein wichtiges Argument, das die Politik geflissentlich ignoriert: Es geht nicht nur darum, den Kollaps der Kliniken zu vermeiden. Wenn wir es soweit kommen lassen, ist schon gigantischer Schaden angerichtet.
Long Covid sollte in Beurteilung der Lage mit einfließen
Die Debatte blendet das Thema Long Covid systematisch aus. Das finde ich fahrlässig. Die WHO geht davon aus, dass einer von zehn Covid-Patient*innen noch nach Monaten deutlich beeinträchtigt ist – so manche(r) kommt keine Treppe mehr hoch, ist dauer-erschöpft und nicht mehr arbeitsfähig.
Diese Menschen tauchen in keiner Klinik-Statistik auf. Aber je weniger Infektionen es überhaupt gibt, desto weniger Frauen und Männer werden unter Long Covid leiden. Die Langzeitfolgen sind übrigens keine Privatsache, sondern schädigen auch die Wirtschaft. Das Ausmaß ist noch gar nicht abzusehen.
Wenn wir hohe Inzidenzen zulassen und nur auf die Krankenhäuser schauen, steigt zudem die Gefahr gefährlicher Virusmutationen deutlich an. Auch deshalb sollten wir alles dafür tun, die Fallzahlen niedrig zu halten. Die Inzidenz ist nicht der einzige Wert, der zählt - aber sie bleibt von zentraler Bedeutung.