In seinem Strategiepapier für den Herbst und Winter schreibt das Robert-Koch-Institut (Stand 22.7.2021):
Zu Beginn der Pandemie haben alle über sie gesprochen: die Herdenimmunität. Denn sobald wir sie erreicht haben – ob durch Impfungen oder Durchseuchung – können wir wieder ein normales Leben führen. Es sind dann nämlich so viele Menschen immun, dass jede infizierte Person durchschnittlich weniger als eine andere Person anstecken kann. Die Ausbreitung wird somit langsamer und ungeimpfte Menschen sind durch den Immunschutz anderer mitgeschützt. Im besten Fall wird das Virus ausgerottet. Zumindest letzteres hält das RKI jetzt aber für unwahrscheinlich.
Wie viele Menschen müssen sich in Deutschland impfen lassen, damit die Pandemie vorbei geht?
Lange Zeit wurde von einer Immunitätsquote von etwa 70 Prozent gesprochen, die nötig ist, um die Herdenimmunität zu erreichen. Oftmals wird die mit einer erstrebenswerten Impfquote gleichgesetzt, weil der Anteil genesener Menschen vergleichsweise gering ist. Laut dem RKI sind rund 3,7 Millionen Menschen in Deutschland genesen – also weniger als fünf Prozent (Stand 2. August 2021). Allerdings schwindet die Immunität je länger die Infektion zurückliegt. Dementsprechend sind nicht (mehr) alle davon immun.
Für die Berechnung der benötigten Impfquote für eine Herdenimmunität benötigt man die Basisreproduktionszahl R0. Sie gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt, wenn bisher niemand immun ist und keine Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung stattfinden. Für den ursprünglichen Wildtyp von SARS-CoV-2 liegt R0 bei 2,8 bis 3,8 Menschen, die eine infizierte Person unter diesen Umständen ansteckt. Die nötige Impfquote errechnet sich aus dieser Formel:
Herdenimmunität = 1 - (1/R0)
Mit R0 = 2,8 bis 3,8 ergeben sich so rund 70 Prozent. Für die später dominierende Alpha-Variante B1.1.7 liegt R0 aber etwa 1,5-fach höher. Demnach lag die benötigte Immunitätsquote mit der Alpha-Variante bei über 80 Prozent. Hinzu kommt, dass die Rechnung davon ausgeht, dass die Impfstoffe eine Infektion zu 100 Prozent verhindern könnnen. Weil das aber nicht der Fall ist, müssten noch einmal deutlich mehr Menschen immun sein, damit es zu einer Herdenimmunität kommen kann.
Das Robert-Koch-Institut geht von einer Zielimpfquote von 85 Prozent für 12- bis 59-Jährige und von 90 Prozent für Personen ab dem Alter von 60 Jahren aus (Stand 28. Juli 2021). Damit könne man die 7-Tage-Inzidenzen unter 100 beziehungsweise 50 Fälle pro 100.000 Personen halten. Inzwischen haben wir es in Deutschland größtenteils aber mit der Delta-Variante zu tun. Sie scheint nochmals ansteckender zu sein als Alpha. Die Zielimpfquote dürfte inzwischen also noch höher als 85 Prozent liegen.
Vor allem, wenn man bedenkt, dass 12- bis 15-Jährige bisher nur zurückhaltend geimpft werden und es für jüngere Kinder noch keinen zugelassenen Impfstoff gibt, wird klar, dass diese Zielquote quasi unerreichbar ist. Kinder und Jugendliche machen nämlich rund 15 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, Kinder unter zwölf mehr als 11 Prozent.
Vierte Welle wird kommen
Vor diesem Hintergrund rechnet das RKI mit einem erneutem Anstieg der Fallzahlen im Herbst und Winter. Als Grund für diese Einschätzung führt das RKI neben der höheren Übertragbarkeit von Delta auch die etwas verringerte Impfstoff-Wirksamkeit gegen die Variante an. Im schlimmsten Fall käme es mit neuen Mutanten zu einer sogenannten "Immun-Escape". Das würde bedeuten, dass eine neue Variante den Immunschutz, der zum Beispiel durch eine Impfung entsteht, umgehen kann. Die Impfungen wären dann nicht mehr wirksam.
Darüber hinaus rechnet das RKI mit Impfdurchbrüchen, also Infektionen und Erkrankungen trotz Impfung – vor allem in der älteren Bevölkerung. Alte Menschen bauen im Schnitt einen geringeren Immunschutz auf. Außerdem ist die Impfung bei ihnen am längsten her, das heißt, die Schutzwirkung wird am schnellsten nachlassen.
Das RKI erhebt inzwischen Daten zu solchen Impfdurchbrüchen: Insgesamt rund 14.000 Infektionen bei vollständig Geimpften hat es in Deutschland seit Anfang Februar gegeben. Davon ist zwar nur ein Teil der Menschen wirklich erkrankt, es besteht aber auch die Gefahr, dass die Infizierten das Virus an andere weitergeben.
Zu neuen Infektionsketten könnte die zunehmende Lockerung von Maßnahmen (vor allem in Innenräumen), vermehrte Kontakte, weniger Testungen und das Einschleppen von Covid-19 aus dem Ausland führen. Auch "Immunitätsungleichheiten", also Zellen geringer Immunität in der Bevölkerung (bezogen auf das Alter, den Wohnort oder den sozialen Status), könnten zu Ausbrüchen und damit einem höheren Infektionsgeschehen führen. Und möglicherweise könnten sich auch aus Tieren erneute Infektionen unter Menschen speisen.
Aus all diesen Gründen und nicht zuletzt aufgrund der Saisonalität der Erkrankung geht das RKI von einem erneuten Anstieg der Corona-Fallzahlen im Herbst und Winter aus.
Keine Herdenimmunität – und jetzt?
Ob und wann wir eine Herdenimmunität erreichen, ist unklar. Vieles hängt davon ab, welche neuen Virusvarianten sich ausbilden und ob die Impfstoffe weiterhin dagegen wirken. Um die Anzahl der Mutationen gering zu halten, ist es wichtig, die Zahl der Infektionen niedrig zu halten. Solange sich aber nicht noch deutlich mehr Menschen impfen lassen, sind wir andererseits darauf angewiesen, dass sich diejenigen infizieren und dadurch einen Immunschutz aufbauen.
Letztlich gibt es nämlich nur die Wahl zwischen einer Impfung und einer Infektion mit SARS-CoV-2. Auf die ein oder andere Art werden wir früher oder später immun sein – vorausgesetzt das Virus mutiert nicht schneller als wir unseren Immunschutz aufbauen können. Die deutlich sicherere Variante für die Immunisierung ist deshalb die Impfung. Nicht nur, weil sie uns vor der Krankheit schützt, sondern auch weil sie dem Virus weniger Möglichkeit zur Mutation lässt.