Infantile Amnesie

Kinder können Erinnerungen früher speichern als gedacht

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Autor/in
Frank Wittig
Frank Wittig, Reporter für SWR Wissen aktuell
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Lilly Zerbst
Portraitbild der Reporterin Lilly Zerbst.

Bisher galt, dass Kinder frühestens ab dem zweiten bis dritten Lebensjahr Erinnerungen langfristig speichern können. Eine US-Studie korrigiert diese Vorstellung.

Unsere frühesten Erinnerungen reichen nicht bis zur Geburt. Nach einer landläufigen Einschätzung sind Kindheitserinnerungen frühestens ab dem zweiten bis dritten Lebensjahr möglich. Fachleute sprechen hier von frühkindlichem Gedächtnisverlust oder von „infantiler Amnesie“.

Forschende aus den USA zeigen nun in einer im Fachmagazin „Science“ veröffentlichten Studie, dass diese Einschätzung falsch ist. Erinnerungen werden schon früher gebildet. Und können unser Leben beeinflussen. Auch wenn der bewusste Zugriff auf diese Erinnerungen nicht möglich ist.

„Erinnerungsorgan“ mitten im Gehirn

In einer Studie mit 24 Kleinkindern im Alter von vier bis 25 Monaten untersuchte das Team um den Neurobiologen Tristan Sky Yates an der New Yorker Columbia Universität, ab welchem Alter Kinder Erinnerungen speichern können.

Persönliche Erlebnisse langfristig zu speichern, ist Aufgabe des episodischen Gedächtnisses. Von zentraler Bedeutung für diese Speicherung ist der mitten im Gehirn gelegene Hippocampus. Die Tatsache, dass der Hippocampus in den ersten Lebensjahren noch nicht vollständig ausgebildet ist, galt bisher als mögliche Ursache, weshalb frühe Kindheitserlebnisse nicht erinnert werden können.

Der Hippocampus (rot im Bild) fungiert als eine Art Zwischenspeicher im Gehirn. Bei Kleinkindern ist dieser noch nicht vollständig ausgeprägt.
Der Hippocampus (rot) fungiert als eine Art Zwischenspeicher im Gehirn. Bei Kleinkindern ist dieser noch nicht vollständig ausgeprägt.

Dem Gehirn beim Speichern von Erinnerungen zuschauen

Um dem genauer nachzugehen, haben die Forschenden die Säuglinge und Kleinkinder in einem funktionellen Magnetresonanztomographen (MRT) untersucht. Der Tomograph macht sichtbar, welche Hirnregionen bei geistigen Prozessen aktiv sind.

Während der Untersuchung sahen die Kinder mehrere Bilder in Folge. Nach einer Pause wurden den Kindern Bilderpaare gezeigt: ein bereits gezeigtes und ein neues. Wenn die Kinder sich mit dem bereits gezeigten Bild länger beschäftigten als mit dem neuen, galt das als ein Hinweis, dass sie sich an diese Bilder erinnerten.

Symbolbild: Den Kindern wurden wiederholt Bilder von Objekten, Landschaften und Gesichtern gezeigt, um ihre Erinnerung zu testen.
Den Kindern wurden wiederholt Bilder von Objekten, Landschaften und Gesichtern gezeigt, um ihre Erinnerung zu testen.

Gedächtnisprozesse schon bei einjährigen Kindern

Bei Bildern, an die die Kinder sich erinnerten, hatte der Hippocampus bei der ersten Präsentation eine verstärkte Aktivität gezeigt. Ein klarer Hinweis auf Gedächtnisprozesse. Und das auch schon bei Kindern, die gerade ein Jahr alt waren. Für den Psychologen und Verhaltensneurobiologen Jan Born von der Uniklinik Tübingen eine Bestätigung von Forschungsergebnissen, die sich in Tierversuchen bereits abgezeichnet hatten. 

„Das ist jetzt beim Menschen zum ersten Mal in ganz überzeugender Weise gezeigt worden. Das ist zwar ein kleiner Baustein, aber ein ungemein zentraler, wichtiger Baustein. Denn letzten Endes geht es ja darum, was kann der Mensch – was können wir von unserer frühen Kindheit erinnern, und was wirkt in uns weiter bis ins Erwachsenenleben hinein, was wir in früher Kindheit erfahren“, erklärt Jan Born.

Speichern und abrufen von Erinnerungen

Die Forschenden um Tristan Sky Yates erklären ihre Forschungsergebnisse so: Die erste Speicherung von Erinnerungen ermöglicht der Hippocampus schon ab dem Alter von etwa einem Jahr. Das zeigt die erhöhte Aktivität des Hippocampus beim ersten Betrachten der Bilder, an die sich die Kinder erinnern können.

Dass frühkindliche Erfahrungen später im Leben nicht erinnert werden können, liege also nicht beim Speichern der Erlebnisse, sondern bei nachfolgenden Gedächtnisprozessen. Etwa weil das Abrufen der Gedächtnisinhalte nicht möglich ist.

Illustration einer Person, die nach Erinnerungen im Kopf sucht. Dass wir uns nur schlecht an unsere Kindheit erinnern können, liegt wohl nicht an einem unausgebildeten Hippocampus. Stattdessen ist könnten nachfolgende Gedächtnisprozesse verantwortlich sein.
Dass wir uns nur schlecht an unsere Kindheit erinnern können, liegt wohl nicht an einem unausgebildeten Hippocampus. Stattdessen könnten nachfolgende Gedächtnisprozesse verantwortlich sein.

Unbewusste Erinnerungen aus der Kindheit haben starken Einfluss

Für Jan Born, den Direktor der medizinischen Psychologie an der Uniklinik Tübingen, ein wichtiges Forschungsergebnis. „Das Baby ist in der Lage, die Erfahrungen doch sehr klar aufzunehmen und auch zu behalten. Das heißt, wir müssen davon ausgehen, dass diese frühkindlichen Erfahrungen sehr lange im Gehirn wirken und dann auch das Verhalten im Erwachsenenalter entscheidend beeinflussen.“

Für Jan Born auch ein Hinweis darauf, wie wichtig es sei, Kleinkinder vor traumatischen Erfahrungen zu beschützen. Denn die könnten sich - auch wenn sie nicht aktiv erinnert werden - unbewusst ein Leben lang negativ auswirken.

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