Die Autismusrate in der Bevölkerung nimmt zu. Derzeit wird eine weltweite Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) von 0,6 bis 1 Prozent angenommen. Menschen auf diesem Spektrum sichtbarer zu machen, hat viele Vorteile, doch führt auch zu der Reproduktion von Stereotypen.
Bessere Diagnostik: Höchster Anstieg bei Kindern
Zunächst muss man sagen: Ein Glück werden Menschen im Autismus-Spektrum heute sehr viel häufiger diagnostiziert wie noch vor 50 bis 60 Jahren. Als in der Regel – und wenn überhaupt – nur sehr schwere Fälle erfasst wurden und das dann oft viel zu spät.
Erst gerade wurde wieder eine Studie aus den USA publiziert: In New Jersey sind die Fälle von Autismus-Spektrum-Störungen um 500 Prozent gestiegen. Der höchste Anstieg war bei Kindern.
Spektrum mit individuellen Ausprägungen
Es wird heute auch nicht mehr nur in verschiedene Formen von Autismus wie beispielweise Asperger-Syndrom unterschieden, sondern von einem Spektrum autistischer Störungen ausgegangen, in dem es unterschiedlichste Schweregrade und individuelle Ausprägungen gibt. Das heißt, die Diagnosekriterien sind erweitert worden, weswegen per se schon mehr Menschen darunterfallen.
Heutzutage werden endlich auch mehr Mädchen diagnostiziert, denn Autismus galt lange Zeit als Behinderung von Jungen – ein großer Irrtum, der vor allem deswegen entstand, weil Mädchen sich häufig besser anpassten, beziehungsweise anpassen mussten.
Mehr Diagnosen sind also gut. Es bedeutet, früher Hilfe, Therapie und Förderung zu erhalten. Auffällige Kinder werden im besten Fall eben nicht einfach nur mitgeschleift. Menschen in diesem Spektrum sichtbarer zu machen, auch in Büchern, Serien, Filmen, hilft enorm, die Verschiedenheit anzuerkennen.
Weder Trend, noch Klischee
Doch nun kommt das große Aber: die wirklich Betroffenen fühlen sich häufig nicht gesehen. Medien benutzen diese Geschichten über Menschen mit Autismus, weil sie Klicks bringen. Gerne werden dabei auch Klischees befeuert. Zum Beispiel vom sozial auffälligen, isoliert lebenden Autisten, der nie Spaß hat.
Autismus ist heute auch zu einer Mode-Diagnose geworden. Es gibt Selbsttests im Internet: Gefühlt ist jeder, der etwas anders ist oder mit etwas Probleme hat, ein wenig autistisch – was natürlich Unfug ist.
Es ist kein Lebensstil, nicht hipp oder lustig, autistisch zu sein. Und sogenannte autistische Züge zu haben wie beispielsweise Ängstlichkeit oder emotionale Instabilität begründen auch noch lange nicht die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung. Und das hilft auch nicht den wirklich Betroffenen, die dadurch weniger ernst genommen werden.
Noch immer existieren enorme Vorurteile und Klischees gegenüber autistischen Menschen. Ja, Autismus geht einher mit einem erhöhten Risiko für psychische Probleme und bestimmte Erkrankungen. Gerade auch, wenn es nicht diagnostiziert wird. Aber eben nicht alle erkranken daran. Und ja, sie agieren anders mit ihren Mitmenschen. Das heißt aber nicht, dass sie es überhaupt nicht können. Viele Autisten und Autistinnen haben eigene Strategien entwickelt und können gut mit diesen leben.
Barrieren abbauen
Wir sprechen viel von Diversität. Und im Fall von Autismus sprechen wir von Neurodiversität. Es gibt eben auch in der Neurologie eine Vielfalt. Und nicht jede Änderung der Norm ist eine Krankheit. Die Frage ist auch hier auch klar eine gesellschaftliche: Wie viel anders sein halten wir aus und sollten wir auch aushalten? Und wie viel Leidensdruck haben am Ende die Betroffenen? Denn ganz allein darum sollte es gehen.
Autismus ist eine Behinderung. Betroffene kämpfen noch immer mit vielen Barrieren in der Gesellschaft. Auch heute, besonders in ländlichen Regionen, ist es immer noch enorm schwierig und nicht barrierefrei, passende Hilfsangebote zu beantragen und zu bekommen, die viele Menschen bräuchten.
Es gibt noch immer keine kausalen Therapien und viel Diskriminierung, auch beispielsweise bei der Arbeitsplatzsuche. Betroffene klagen auch darüber, dass zu wenig mit Betroffenen selbst gesprochen wird. Vielleicht sollten wir also erstmal da ansetzen, was Menschen mit dieser Diagnose wirklich helfen würde, statt irgendwelche Selbstdiagnosen zu feiern oder einfach nur die Klischees weiterzutragen.