Das Märchen vom Zappelphilipp
"Das verwächst sich doch irgendwann” - das denken viele, wenn es um das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) geht. Aus den impulsiven Jungs und Mädels würden schon noch funktionierende Erwachsene. So zumindest das weit verbreitete Klischee von der reinen Kinderkrankheit. Doch aktuelle Studien zeigen, das ist falsch. Es gibt seit Jahren mehr und mehr Diagnosen im Erwachsenenalter, mit 30, 40 oder sogar erst 50 Jahren. Wie kann das sein und welche Hilfe gibt es für Betroffene?
ADHS hat drei Hauptsymptome - Hyperaktivität, also körperliche Unruhe, Impulsivität, sprich unüberlegte Handlungen und Unaufmerksamkeit, das heißt Konzentrationsprobleme. Zwar verhalten sich alle Menschen mal impulsiv, unaufmerksam oder sind nicht bei der Sache, aber bei manchen sind diese Merkmale so stark ausgeprägt, dass sie ihren Alltag nicht bewältigen können. Probleme in der Schule, der Arbeit oder in der Familie sind die Folge.
Wenn der Leidensdruck so groß ist, dass ein funktionierendes Leben unmöglich wird, dann kann klinisch ausgeprägtes ADHS der Grund sein. Dabei zeigen aktuelle Studien, dass sich die Erkrankung nicht automatisch verwächst. Knapp die Hälfte der betroffenen Kinder hat auch noch im Erwachsenenalter ADHS-Symptome (Faraone, S. V., Biederman, J., & Mick, E., 2006).
Fehlende Diagnosekriterien für Erwachsene?
Erwachsene entwickeln also nicht plötzlich ADHS-Symptome. Die Probleme gab es bereits im Kindes- oder Jugendalter wurden aber nicht diagnostiziert. Wer im Kindes- oder Jugendalter durch das Raster fällt, für den ist eine Diagnose im Erwachsenenalter unwahrscheinlich. Das liegt vor allem daran, dass es für Erwachsene lange keine klinischen Diagnosekriterien gab.
In den beiden großen Diagnose-Leitfäden, dem “International Classification of Diseases” (WHO) und dem “Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders” (American Psychiatric Association) war ADHS lange Zeit als reine Störung des Kindes- und Jugendalters definiert. Eine Diagnose bei Erwachsenen war nicht vorgesehen. Erst Anfang der 90er wurden auch Diagnose-Checklisten für Erwachsene definiert und erst nach der Jahrtausendwende gab es die ersten klinischen Fragebögen speziell für Erwachsene.
Doch viele Psychologen und Psychiater, die heute praktizieren, haben im Studium mit den alten Diagnose-Leitfäden gelernt. Sie haben Erwachsenen-ADHS nicht auf dem Schirm. Daher werden die Kriterien in der klinischen Praxis oft nicht angewendet. Hier gibt es noch viel Nachholbedarf bei den Psychiatern, Psychologen und Ärzten (Libutzki et al., 2020).
ADHS ist keine Modeerscheinung
ADHS ist kein neues Phänomen. Die ersten Berichte gehen auf das 18. Und 19. Jahrhundert zurück. Den Begriff ADHS gab es damals zwar noch nicht, aber die beschrieben Symptome decken sich mit dem, was wir heute darunter verstehen. 1775 beschrieb der deutsche Arzt Melchior Adam Weikard erstmals in der deutschen Medizingeschichte eine Störung, die sich in allen wichtigen Punkten mit ADHS deckt. Auch Alexander Crichton (Royal College of Physicians) charakterisierte 1798 eine ähnliche kognitive Auffälligkeit.
1902 untersuchte der britische Kinderarzt George Still Kinder mit "Defects in Moral Control". 1932 benutzten Franz Kramer und Hans Pollnow erstmals den Begriff “Hyperkinetische Störung”, der von der WHO übernommen wurde. Noch in den 40ern wurden ADHS-artige Symptome als “minimal brain disfunction” bezeichnet. Ärzte gingen damals davon aus, dass ein Hirnschaden für die Symptome verantwortlich ist. Ein wissenschaftlicher Irrglaube, der durch Studien und physiologische Untersuchungen widerlegt wurde.
1987 wurde die Störung im internationalen Diagnoseleitfaden DSM III (“Diagnostic and Statistical Manuel of Mental Disorders”) als “Attention Deficit Hyperacitvity Disorder” aufgelistet. Das Kürzel ADHD war geboren und wurde als ADHS ins Deutsche übersetzt.
Voll zappelig. Ein Fall für starke Nerven und Konzentration · 06
Das Leben wieder in den Griff bekommen
Die Grundpfeiler einer nachhaltigen ADHS-Therapie sind Psychotherapie und Medikation. Bei der Psychotherapie können Betroffene ihr Verhalten in Ruhe reflektieren, mit einer neutralen Person über Rückschläge und Konflikte sprechen – Nur so können negative Verhaltensmuster erkannt und durch bessere ersetzt werden. Medikamente können eine zusätzliche Stütze sein. In der Regel verschreiben Ärzte die Wirkstoffe Lisdexamfetamin und Methylphenidat. Sie gehören zur Familie der Amphetamine, wirken also eher aufputschend.
Klingt erstmal nach einem Widerspruch, ADHS mit antriebssteigernden Medikamenten zu behandeln. Doch bei Betroffenen sind die Botenstoffe im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten – vor allem die Neurotransmitter Noradrenalin und Dopamin. Warum das so ist, weiß man nicht genau. Klar ist nur, dass bestimmte Gene einen hohen Anteil an der neurochemischen Schieflage im Gehirn haben. Denn 70-80 Prozent der Symptomatik können auf die geerbten Gene zurückgeführt werden.
Es gibt zwar kein einzelnes “ADHS”-Gen aber eine Reihe von Gensequenzen, die mit den Symptomen zusammenhängen. Doch auch hier gilt “nature and nurture”. Unser Erbgut kann uns anfälliger für bestimmte Krankheiten machen. Doch am Ende haben sowohl die Gene als auch die Umwelt Einfluss darauf, ob sich ADHS-Symptome entwickeln oder nicht.
Linktipps und Adressen:
Quellen:
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