Küstenarchäologie

100 Jahre Rungholt-Forschung

Stand
Autor/in
Thomas Samboll
Onlinefassung
Julia Otto

Vor genau 100 Jahren hat im nordfriesischen Wattenmeer die wissenschaftliche Erforschung der in der Nordsee versunkenen Stadt Rungholt begonnen – und immer noch nicht sind alle Rätsel gelöst.

Es war schon ein ziemlich ungewöhnlicher Pfingstausflug, den der Landwirt Andreas Busch im Mai 1921 unternommen hatte. Von der Halbinsel Nordstrand fuhr er bei Ebbe mit Pferd und Wagen Richtung Hallig Südfall. Was wie eine kleine Spritztour ins Watt wirkte, war tatsächlich die Suche nach einer untergegangen Stadt – dem sagenhaften Rungholt. Denn Andreas Busch war auch Hobby-Archäologe und Rungholt der Mythos an der Nordseeküste schlechthin. Selbst der Dichter Detlef von Liliencron hatte sich erstaunliche Dinge über den verschwundenen Ort zusammengereimt.

Ein Gedicht als Auslöser der Suche

Dem wollte Andreas Busch nun auf den Grund gehen, erzählt Wolf-Dieter Dey, der das Inselmuseum auf Nordstrand leitet: "Heute bin ich über Rungholt gefahren", so fange dieses Gedicht an, "die Stadt ging unter vor 500 Jahren." Und dieses Gedicht von Detlef von Liliencron habe den Mythos und die Legende von Rungholt ganz entscheidend geprägt! Dieses Gedicht stelle Rungholt als einen großen, mächtigen, stadtähnlichen Ort dar, der von vielen tausenden Menschen bewohnt war. Museumsleiter Wolf-Dieter Dey weiter: Detlef von Liliencron vergleiche Rungholt mit dem alten Rom und hebe es in seiner Bedeutung in die Nähe des sagenumwobenen Ortes Atlantis, nachdem man ja immer noch suche. Dieses Bild entspreche natürlich in keiner Weise der Wirklichkeit.

Rungholt war keine Metropole

Tatsächlich war Rungholt wohl ein ziemlich unspektakulärer Ort, betont der Küstenarchäologe Dirk Meier. Das hätten die vielen Funde und Forschungsarbeiten von Andreas Busch gezeigt und spätere wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt: Es habe sich um keine dicht besiedelte Ortschaft gehandelt. Rungholt sei eine reihenförmige Anlage gewesen, ein Gebiet, wo langgezogene Marschhufen-Siedlungen mit Entwässerungszügen zu finden waren.

Karte Rungholt aus dem Jahr 1652
Rekunstrierte Karte von Rungholt aus dem Jahr 1652.

Auf den Warften, also den kleinen Erdhügeln, die man heute noch als Sturmflutschutz von den Halligen kennt, wohnten insgesamt nur etwa 1000 bis 2000 Menschen. Von einer mittelalterlichen Metropole wie Hamburg, Lübeck oder dem alten Rom also keine Spur, so Wolf-Dieter Dey:

Das ist Rungholt nie gewesen. Sondern es war halt ein Marschendorf. Es war ein großes Marschendorf! Aber es war eben keine große und mächtige Stadt, wie Herr Liliencron es in dichterischer Freiheit eben versucht hat darzustellen.

Rungholt durch Sturmflut zerstört

Sicher ist aber, dass Rungholt wirklich existiert hat. Wo genau ist jedoch bis heute umstritten: Bei einer verheerenden Sturmflut im 14. Jahrhundert sollen Rungholt und andere Orte zerstört worden und hunderttausend Menschen ertrunken sein. Arroganz, Übermut und Gottlosigkeit der Bewohner hätten die Katastrophe heraufbeschworen, so heißt es.

Der Boden unter Rungholt ist abgesackt

Tatsächlich stand Rungholt aber wohl eher auf ziemlich wackligen Füßen, meint Küstenärchäologe Dirk Meier. Der Ort war zwar nicht völlig auf Sand gebaut. Wirklich guten Halt bot der Tonboden, der ein altes eiszeitliches Schmelzwassertal ausfüllte, aber auch nicht. Der Untergrund sei nie fest gewesen und weggerissen worden. Das merke man heute bei einer Wattwanderung, es gebe Schlicklöcher, in denen man wegsacke. Das Meer habe sich diese alten Schwächezonen gesucht und eingebrochen. Das konnten die Rungholter damals schlichtweg nicht wissen.

Wattwanderung
Bei einer Wattwanderung merkt man, dass der Untergrund nicht fest ist und es Schlicklöcher gibt, in denen man wegsackt.

Landwirtschaft verursachte Probleme

Dass der Boden durch die ständige Entwässerung immer weiter absackte, dürfte für sie allerdings schon eine Rolle gespielt haben: Man habe, so Dirk Meier, diese Landschaft kultiviert, um Roggen und Getreide anzubauen. Und über Rungholt sei mit Sicherheit auch der Salzexport gelaufen. Ob im Rungholtgebiet selbst Salztorf abgebaut worden ist, das sei nicht belegt. Aber im Wesentlichen habe man für den Getreideanbau entwässert. Es seien die Bauern gewesen, die Probleme dadurch hatten, dass die Böden immer weiter absackten und sich die Umweltverhältnisse im Laufe der Zeit verschlechterten, erklärt Dirk Meier.

Deich konnte Rungholt nicht schützen

Heute weiß man, dass weite Teile Rungholts und der umliegenden Gebiete unter dem Meeresspiegel lagen. Zum Schutz gegen den „Blanken Hans“, also die Nordsee, wurden damals die ersten Deiche gebaut. Auch in der Nähe der Hallig Südfall hatte Landwirt und Hobbyforscher Andreas Busch Reste eines solchen Bauwerks entdeckt. Ob es einst der Deich von Rungholt war? Das ist bis heute ungeklärt. Als sicher gilt dagegen, dass der alte Schutzwall mit einer Höhe von etwa zwei Metern viel zu niedrig war, um den tosenden Fluten Paroli bieten zu können. Rungholt rasselte also geradewegs in die Katastrophe. Warum aber wurde gerade dieser Ort zum Mythos, wenn es doch andere genauso schwer erwischt hat? Auch das ist noch offen.

Funde aus Rungholt
Der Schutzwall mit einer Höhe von etwa zwei Metern war viel zu niedrig – die Sturmflut hat Rungholt zerstört. Übrig sind Keramikfunde aus Rungholt.

Hochmut der Rungholter

Wolf-Dieter Dey vom Inselmuseum Nordstrand hat aber eine Vermutung: Rungholt sei der Ort gewesen, der sich einen Deich leisten konnte, vielleicht, weil der Ort, wie die Sage es ja beschreibt, besonders reich gewesen sei. Das habe möglicherweise die Menschen von Rungholt dazu verführt, etwas hochmütig zu werden gegenüber der Nordsee und gegenüber den anderen Anwohnern dieser Küstenregion. Und vielleicht hätten diese den Rungholtern ihre Arroganz etwas übel genommen. Aus dieser Haltung heraus hätte sich dann die Sage entwickeln können, die heute Rungholt umgibt.

Und so könnte in den alten Geschichten über Rungholt doch noch ein Körnchen Wahrheit stecken. Das gilt freilich nicht für die Erzählung von den Rungholter Kirchenglocken, die man bei ruhigem Wetter im Watt noch läuten hören soll. So erzählt man es sich jedenfalls bis heute an der Küste.

Oder, wie Archäologe Dirk Meier es ausdrückt:

Das sind so schöne Geschichten, und die kann man auch bei der Wattwanderung immer schön erzählen. Aber natürlich sind diese Erzählungen der Zauber dieser Landschaft!

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Thomas Samboll
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Julia Otto