Reality Gaming Experience

Der Tatort – How To & Learnings

Stand

"Kriminalhauptkommissar Lannert hier. Wir sind im Augenblick ziemlich unterbesetzt und ich könnte deine Hilfe brauchen." Der Einstieg in das Online-Spiel zum "Tatort" ist eine Sprachnachricht von Thorsten Lannert, alias Richy Müller. Dann der Aufruf: "Kannst Du uns helfen?" Und schon sind die Spieler*innen mittendrin im "Tatort"-Spiel. Wir geben euch hier einen Einblick in den Entwicklungsprozess des Spiels von der Challenge bis zum spielbaren Prototypen.

Das Projekt

KategorieReality Gaming Experience
AnsprechpartnerSebastian Demuth (SWR X Lab)
StakeholderNils Reinhardt (Tatort Redaktion)
Projektstart04/2021
StatusRelease 06/2023

 

Seit etwa einem Jahr arbeiten wir gemeinsam mit der "Tatort"-Redaktion daran, ein Online-Spiel zum "Tatort" zu entwickeln. Eine erste Version des Spiels ist eine Outdoor-Variante, die mitten in Stuttgart gespielt werden kann. Parallel arbeiten wir jetzt an einer rein digitalen Version des Spiels, die von überall aus online gespielt werden kann.

Der Prozess – von der Challenge bis zum spielbaren Prototypen

Wie können wir die Tatort-Erlebniswelt als Erweiterung zum Primetime-Produkt in anderen Medienformen erlebbar machen und damit neue Zielgruppen erreichen?

1. Ideenfindung

Um neue, jüngere Zielgruppen mit dem Tatort zu erreichen, kam schnell das Thema Gaming auf. Warum? Gaming ist vollends in der Breite der Gesellschaft angekommen. Die meisten Menschen in Deutschland spielen mindestens gelegentlich Games – unabhängig von Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad. Ein Tatort-Spielangebot des SWR hat damit das Potenzial SWR- & Tatort-ferne Zielgruppen zu erreichen, die unsere klassischen Angebote nicht nutzen.

Die Idee, die wir auf Basis ausführlicher Recherchen entwickelten: Einen Fall als standortbezogenes, mobiles Rätsel-Game erlebbar machen. Spieler*innen können in die Rolle von Ermittler*innen schlüpfen und einen Tatort-Fall in ihrer Stadt lösen. Man kann sich das wie ein Outdoor Escape Game mit GPS-Tracking vorstellen. Per Smartphone und Messenger haben Spieler*innen Kontakt zu den Tatort-Kommissaren, bekommen Sprachnachrichten, Bilder & Videos zum Fall geschickt. Die Ermittlungen führen die Ermittler*innen an verschiedene Orte in der Stadt, wo sie teils mit fiktiven Charakteren interaktiven Kontakt haben, verschiedene neue Erkenntnisse und damit Schritt für Schritt einen Kriminal-Fall im Stuttgarter Tatort Universum lösen.  

Tatort-Game
Der Mordfall an sich kreist um “Emilia Frey”, eine ambitionierte und polarisierende Stuttgarter Gastronomin, die leider – wie sollte es beim Tatort anders sein– am Marienplatz ermordet aufgefunden wurde. Bild in Detailansicht öffnen
Ein Screenshot vom Tatort-Game Messenger, ein digitales Produkt des SWR X Lab, mit dem ein Tatort Kriminalfall in digitaler Umgebung gelöst werden kann.
In das Spiel starten wir mit einem Erstkontakt durch den “echten” Thorsten Lannert, der uns mit Sprachnachrichten und der Originalstimme von Richy Müller durch die Ermittlungen führt und uns während des gesamten Spiels live und „persönlich“ begleitet. Bild in Detailansicht öffnen
Tatort-Game
Während der Ermittlungen gibt es zudem Kontakt mit Dr. Vogt aus der Gerichtsmedizin, der uns Fotos der Ermordeten schickt und ... Bild in Detailansicht öffnen
Tatort-Game
... über den wir zu einer alten Münze und mehreren vergilbten Postkarten mit kryptischen Zeichen kommen. Bild in Detailansicht öffnen
Tatort-Game
Die Ermittlungen führen über verschiedene Rätsel-Steps immer tiefer in den Fall. Wir gewinnen neue Erkenntnisse durch die Interaktion mit weiteren Verdächtigen und bewegen uns durch einen Krimi-Kosmos, dessen Lösung mit einem Mord in der Vergangenheit zu tun hat. Bild in Detailansicht öffnen
Tatort-Game
Ein komplexer Tatort-Fall in interaktiver Game-Form, der mit existenziellen Konflikten und zwei Zeitebenen spielt, und den wir als Ermittler*in stellvertretend und in engem Kontakt mit Kommissar Lannert lösen. Bild in Detailansicht öffnen
Tatort-Game
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2. Annahmen definieren

Bei Marktrecherchen haben wir bemerkt, dass Escape Games meist auf knifflige Rätsel setzen, die Geschichte aber als zugrundeliegendes Fundament vernachlässigen. Die Story dient dem Zweck Spieler*innen von einem Rätsel zum nächsten zu führen, ist dabei meist wenig durchdacht und realitätsfern. Der Tatort zeichnet sich hingegen durch komplexe, mehrdimensionale Geschichten aus und das soll er auch bei einem möglichen Tatort-Spiel.

Doch wie sehen das potenzielle Nutzer*innen? Wertet eine komplexere Story ihre Escape Game Erfahrung auf? Unsere Annahme: Ja. Doch um belastbare Antworten auf diese und weitere kritische Fragen zu finden, wollten wir die Idee in einem ersten Prototyp erlebbar machen. Denn hinter jeder Idee stecken zunächst viele Annahmen, die erfüllt sein müssen, damit diese Idee zu einem erfolgreichen Angebot werden kann. 

3. Prototyp entwickeln

Als Test-Stadt wählten wir Stuttgart und engagierten den Drehbuchautor Jan Cronauer, der bereits bei diversen TV-Krimis und beim Schweizer Tatort mitgearbeitet hat und zudem Brettspiel-YouTuber ist sowie die Rätselautorin Anne Baumann. Beide kommen ursprünglich aus dem Kessel und kennen sich vor Ort gut aus.  

Wir organisierten einen zweitägigen Workshop, an dem wir uns gemeinsam mit den beiden externen Kreativen dem Spieleprinzip annäherten und in einem lebendigen und konstruktiven Austausch spannende Ingredienzien für das “Tatort Game” definierten. Auf Grundlage dieses Workshops entwickelte dann Jan Cronauer gemeinsam mit Anne Baumann eine Krimi-Story kombiniert mit Rätsel-Elementen. Hierbei war uns wichtig, dass die Rätsel nicht als künstlicher extra Baustein wahrgenommen werden und aus dem Tatort-Ermittlungsgefühl herausfallen, sondern als Teil der Handlung wahrgenommen werden. Wie bei “echten Ermittlungen” liefern die Rätsel-Steps jeweils neue Erkenntnisse oder sind kleine technische Hürden im Zuge des Gesamt-Krimi-Plots. 

Gemeinsam standen wir nun vor der großen Herausforderung diesen Fall als Prototyp im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße zu bringen.

Prototyp-Testing

SWR X Lab
Wir organisierten ein Fotoshooting in der Tatort-Gerichtsmedizin, nahmen gemeinsam mit den Tatort-Schauspielern Richy Müller (Kommissar Thorsten Lannert) und Jürgen Hartmann (Gerichtsmediziner Dr. Daniel Vogt) Sprachnachrichten auf, fertigten Bilder und schrieben passende Chat-Nachrichten vor. Wir bauten damit eine Datenbank von über 150 Mediendateien auf, die wir im Laufe des Spieles per Messenger den Spieler*innen schicken konnten. Bild in Detailansicht öffnen
SWR X Lab
Wir wollten auch, dass Spieler*innen mit der städtischen Umgebung interagieren. Im Laufe des Spiels müssen sie sich beispielsweise auf eine Überwachungskamera an einem Hauseingang „hacken“, um an die Aufnahmen zu kommen. Durch ein gekipptes Fenster in einem Hinterhof können sie gegen Ende des Spiels ein Streitgespräch zwischen Tatverdächtigen belauschen. Das voraufgezeichnete Gespräch wird ausgelöst, sobald die Spieler*innen den Hinterhof betreten. All diese technischen Umsetzungen für den Prototyp erfolgten durch uns. Bild in Detailansicht öffnen

4. Testing und Auswertung

Im Dezember 2021 testeten wir den Prototyp das erste Mal mit echten Nutzer*innen. Zwei Stunden liefen sie durch Stuttgart und versuchten den Fall zu knacken. Zum Glück hatten wir es mit hartnäckigen Hobby-Kommissar*innen zu tun: Denn bei 6 Grad und Nieselregen waren es nicht die optimalen Ermittlungsbedingungen. Kommissar Lannert wurde von Basti und Daniel "gespielt". Sie saßen zuhause vor ihren Bildschirmen und schickten den Spieler*innen zur richtigen Zeit die passenden Nachrichten per Messenger. All diese Nachrichten wurden im Vorfeld dramaturgisch für die Story entwickelt, exakt geplant und von Richy Müller eingesprochen. Somit konnten nun Kommissar Lannert gefühlt “live” interagieren, Tipps geben und Ermittlungsschritte einfordern. 

Learnings

Im Anschluss an das Testing wurden die Tester*innen in ausführlichen Interviews zu ihrer Spielerfahrung befragt. Unsere wichtigsten Learnings möchten wir hier mit Euch teilen:  

1. Probieren geht über Studieren 

Prototypen zu erstellen und zu testen ist essenziell in komplexen Projekten. Dadurch gewinnt das Projektteam Klarheit über das Projekt, Abstrakte Ideen & Konzepte werden greifbar und technische Hürden oder Stolpersteine eines Produktes können frühzeitig erkannt werden. Der Austausch mit Tester*innen beantwortet kritische Fragen und das Testing liefert neue Erkenntnisse, z.B. in städtischer Umgebung wirken viele Reize auf Spieler*innen – Aufnahmefähigkeit vor Ort teilweise begrenzt. Das muss bei Storytelling berücksichtigt werden.

2. Man muss Spieler*innen erziehen!

In der ersten Spielminuten erschließen sich Spieler*innen die Mechaniken eines Spiels und passen ihr Verhalten daran an. Die Mechaniken eines Spiels müssen daher in ersten Spielminuten aufgezeigt und eingeübt werden, z. B. über Rückfragen von Tatort-Kommissar Lannert wurde vermittelt, dass mit ihm kommuniziert und sich ausgetauscht werden kann. 

3. Jedes Spiel braucht ein Spielfeld! 

Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität sind für die Spieler*innen schwierig zu erkennen, z.B. einige Spieler*innen fingen an ahnungslose Passanten und Cafébetreiber zu verhören oder überredeten Handwerker*innen sie in das Haus eines fiktiven Tatverdächtigen hineinzulassen. 

4. Game-Design ist ein Balanceakt!

„Game Balancing“ ist eine der größten Herausforderungen. Also, dass sich die Schwierigkeit des Spiels an die Fähigkeiten der jeweiligen Spieler*innen anpasst. Dafür können Rätselschwierigkeiten variieren, Hilfestellungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten gegeben werden oder ganze Erzählstränge je nach Spieler*in  übersprungen oder gekürzt werden.

Im Prototyp konnten wir gut improvisieren – Kommissar Lannert wurde durch uns „gesteuert“. Kommende Versionen des Spiels müssen dies automatisiert leisten 

 Ausblick: Wie geht es weiter?

Mit dem ersten Prototyp konnten wir viele unserer ursprünglichen Annahmen bestätigen – aber es stellen sich neue Fragen. Lässt sich die Interaktion zwischen Kommissar und Spieler*innen automatisieren, um mehrere Gruppen parallel spielen zu lassen? Verändert die Automatisierung das Spielerlebnis? Wie können Menschen, die nicht in Stuttgart wohnen, von Zuhause aus mitermitteln? 

Der nächste Prototyp, an dem wir aktuell arbeiten, soll diese und weitere Fragen klären. Hierfür sind wir dabei einen Chatbot zu trainieren, sodass er wie Kommissar Lannert auf Chatnachrichten von Spieler*innen reagiert und sie durch den Fall führt. Außerdem probieren wir einen neuen Spielemodus aus: Thorsten Lannert und Spieler*innen tauschen dabei Rollen: Nun ist der Kommissar (bzw. der Chatbot) „vor Ort“ in Stuttgart und schickt den Spieler*innen, die von Zuhause aus ermitteln, wichtige Fotos und Beweise. Ein späteres Spiel könnte hierdurch für Menschen aus ganz Deutschland spielbar werden – unabhängig von der Stadt des Falles. 

Vielleicht finden wir mit diesem zweiten Prototyp wieder die Antworten auf unsere aktuell kritischsten Fragen. Dann stellen sich vermutlich neue. Vielleicht merken wir aber auch, dass sich das Konzept in eine andere Richtung entwickeln muss. Wir werden sehen – und euch hier davon berichten. 

SWR Tatort Game: Veröffentlichung am Sonntag, 18.6.2023 unter tatortgame.de.

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Autor/in
SWR