Renaissance der Berührungskultur
Gemessen an der Berührungsfeindlichkeit früherer Zeiten, die mit einer Körperfeindlichkeit in Teilen des Christentum zu tun hatte, ist bereits viel geschehen. Aber eine neue Abstinenz scheint sich mit dem Gebrauch neuer Techniken auszubreiten. In Beziehungen ist manche und mancher versucht, dem anderen beim unablässigen Blick auf den Touchscreen zuzurufen: „Schau mich an! Touch mich mal!“ Auf überraschende Weise rückt die Berührung damit mehr als je zuvor in den Fokus. Gerade in einer Zeit, in der Dinge und Beziehungen forciert digitalisiert werden, wird das Analoge, Anfassbare wieder interessant. Die digitale Entsinnlichung führt zur Wiederentdeckung der Sinnlichkeit abseits der Geräte.
Man spürt sich neu
Die Wiederentdeckung der Berührung und das wechselseitige Berührungsspiel mit anderen gibt dem Leben bereits auf der sinnlichen Ebene viel Sinn. Welche Aspekte der Berührung bedeutsam sind, ist schon auf der körperlichen Ebene erkennbar: Das Betasten der fünf Millionen Nervenenden der Haut wirkt belebend. So genannte C-taktile Fasern reagieren auf Druck und Wärme. Das aktiviert die Energien eines Menschen, und zwar bei wechselseitiger Berührung weit mehr noch als bei bloßer Selbstberührung, wie neurobiologische Messsungen zeigen. andere sorgen für „Feuer unter dem Dach“. Es ist das Berühren eines anderen und das Berührtwerden durch ihn oder sie, wodurch ein Mensch sich spüren und zu sich selbst in Beziehung setzen kann. Immer in den Grenzen, die Berührung von Übergriffigkeit trennt.
Die Berührung überwindet den Egoismus
So groß ist die Bedeutung der Berührung, dass sie geradezu als anthropologisch bezeichnet werden kann: Das Menschsein hängt davon ab. Diese Erfahrung ist tief im Leben jedes Einzelnen verankert: Wenn ich berühre und berührt werde, sinnlich, seelisch, geistig und womöglich auch transzendent, lebe ich. Anders als beim Cogito, das allein vom denkenden Ich spricht, kommt bei der Berührung zusätzlich zum Ich der andere ins Spiel, von dem das Ich berührt wird. Das erlaubt jedem Ich, die bedrückende Isolation in sich selbst zu überwinden, sodass es mit neuer Kraft und Lebensfreude die Fülle des Menschseins erkunden kann.
Außergewöhnliche Erfahrungen können damit einhergehen. Berührungen erzeugen eine Sinnfülle bereits dadurch, dass sie die Sinnlichkeit aktivieren, die das Ich mit anderen und aller Welt verbindet. Das Bedürfnis danach kann eine Triebfeder für Erotik und Sex sein und ist am ehesten zu stillen, wenn es sich dabei nicht nur um äußerliche Verrichtungen handelt.