Die Krise der klassischen Familie
Das klassische Bild der Familie bröckelt. Im Schnitt wird heute jede dritte Ehe geschieden. Zwischen 1950 und 2016 hat sich die Zahl der Einpersonenhaushalte fast verdoppelt. Das „Golden Age of Marriage“ ist längst vorüber. Trotzdem hat die Liebe in Paarbeziehungen nicht an Bedeutung verloren, sagt die Soziologin Mona Motakef.
Die zweite Welle der Frauenbewegung
Nach dem Zweiten Weltkrieg staute sich ein immer größer werdendes Ungerechtigkeitsempfinden an. Die Bildungschancen für Mädchen verbesserten sich und immer mehr Frauen gingen einem Beruf nach. Gleichzeitig veränderte sich jedoch nichts an den patriarchalen Strukturen der Gesamtgesellschaft. Mit der Studentenbewegung in den 1960er-Jahren brach die zweite Welle der Frauenbewegung an.
Ein Tomatenwurf für Selbstbestimmung
Auf dem Parteitag des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) setzte Sigrid Rüger ein Zeichen: Sie bewarf das einflussreiche SDS-Mitglied Hans-Jürgen Krahl mit einer Tomate. Anlass dafür war, dass Geschlechtergerechtigkeit im männerdominierten SDS nur eine untergeordnete Rolle spielte.
Selbstbestimmung und Gerechtigkeit waren die großen Themen der Frauenbewegung. Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen wurden auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht. In einer Ausgabe des "Stern" bekannten 374 Frauen öffentlich: „Ich habe abgetrieben“ und forderten eine Reform des Paragrafen 218 zum Schwangerschaftsabbruch.
Erfolge der Frauenbewegung
Der Protest lohnte sich. 1976 wurde das erste Frauenhaus West-Deutschlands errichtet. 1977 wurde das neue Eherecht eingeführt. Damit wurde die Verpflichtung der Frau zur Haushaltsführung abgeschafft. Im selben Jahr wurde das Scheidungsrecht reformiert, indem das Schuldprinzip abgeschafft wurde. Bis dahin konnten Ehen nur dann geschieden werden, wenn dem Ehemann schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden konnte. Es wurde für Frauen also leichter, einem Beruf nachzugehen. Außerdem konnten sie sich einfacher scheiden lassen.
Die gewonnene Selbstbestimmung veränderte das klassische Bild der Familie: In den 1970er-Jahren beginnt die Selbstverständlichkeit der Ehe zu bröckeln.
Neue Beziehungsmodelle: Vielfalt statt Hochzeit
Der Zuwachs an Scheidungen bedeutet aber nicht, dass es einen Rückgang an romantischen Beziehungen gibt.
Das "goldene Zeitalter der Ehe" ist vorüber und macht Platz für neue Beziehungsmodelle. Ob Patchwork, Co-Parenting, offene Beziehung oder Polyamorie: Heute gibt es statt einer Hoheit der Hochzeit ein Nebeneinander von verschiedenen Lebensentwürfen. Denn romantische Gefühle sind heute genauso wichtig wie früher.
Johanna Juni über ihre Recherche zur "Geschichte der Liebe"
Generation Beziehungsunfähig – so wird meine Generation der Millenials immer wieder tituliert. Es wird gefragt, warum es so vielen von uns nicht gelingt, eine langfristige Bindung einzugehen und behauptet, dass wir nicht imstande seien, „richtig“ zu lieben. Ich habe das immer schon als verkürzt empfunden und mich stattdessen gefragt: Warum hielten Beziehungen früher ein Leben lang und verglühen heute oft nach dem ersten Windstoß? Und was bedeutet eigentlich Liebe? Immer wieder suchte ich nach Antworten: in meinem Studium der Geschichte und Soziologie, in meinen Artikeln – oder auch in meinem Podcast „In jeder Beziehung“. Und jetzt in der Reihe „Geschichte der Liebe“ bei SWR2 Wissen.
Recherche in Sachen Liebe in Antike & Co.
Für SWR2 Wissen gehe ich der Liebe in drei Akten auf den Grund: in der Antike, im Mittelalter inklusive der Romantik und in der heutigen Zeit. Selbst diese Reduzierung auf Schlaglichter entpuppte sich als kein leichtes Unterfangen. Doch je mehr Wissenschaftler*innen ich interviewte, desto besser konnte ich einen feinen Faden durch die Geschichte der Liebe spinnen.
Bei der Recherche stöberte ich durch historische wie philosophische Literatur und stieß auf ein Phänomen, das mich stutzig machte: Wie die männlichen alten Griechen Familie begriffen, ließ mich an einen Trend meiner Generation denken, das sogenannte Co-Parenting: Man tut sich freundschaftlich zusammen, um eine Familie zu gründen – leidenschaftliche Gefühle allerdings werden völlig legitim jenseits davon ausgelebt.
Ovid, Minnesang und die 1968er
Spannende O-Töne von Liebenden der 1968er Jahre und der Jetztzeit einzufangen gelang sehr schnell – mit Zeitzeug*innen aus Mittelalter und Antike sah es naturgemäß schlecht aus. Deshalb entschied ich mich für den Weg über Kunst und Kultur: Ein Musiktheaterstück über den römischen Dichter Ovid, eine Expertin für den mittelalterlichen Minnesang, ein Museum mit antiken Gegenständen: An vielen Orten traf ich Künstler*innen und Besucher*innen, um mit ihnen über Liebe zu sprechen.
Ganz egal, um welche Zeit es sich dabei handelte, zeigte sich etwas Wesentliches: Menschen erschaffen immer wieder Strukturen, um starke Gefühle in die soziale Ordnung zu integrieren. Bis heute versuchen Gesellschaften, den Wunsch nach Sicherheit und Zuhause mit dem Wunsch nach Freiheit und Leidenschaft zu vereinbaren.
Das Ideal der romantischen Liebe ist bekanntermaßen eine Erfindung der Moderne, die Liebesheirat gibt es erst seit 200 Jahren. Das Gefühl des Verliebtseins dagegen existiert schon viel länger. Dabei kommt es jedoch darauf an, wie Menschen im Lauf der Geschichte mit diesem komplexen Gefühl umgegangen sind.
Meine Interviewpartnerin, die Philosophin Nora Kreft, fasst es so zusammen: „Ein wichtiges Element von Liebe ist der drängende Wunsch, dem anderen nah zu sein. Deshalb hat Sokrates auch recht, dass Liebe etwas mit unserem Verlangen zu tun hat, die Welt zu verstehen. In beiden Fällen möchten wir verschmelzen. Aber nicht, indem wir die eigene Subjektivität aufgeben, sondern indem wir das, was an Subjektivität schmerzt – die Grenzen zwischen uns und anderen – niederreißen.“
SWR 2021