Was viele überrascht: Das Mittelalter ist nicht das Zeitalter der Hexenverfolgung
Im ersten Semester fragt Klaus Oschema seine Studierenden nach den Bildern, die der Begriff Mittelalter bei ihnen evoziert: Macht der Kirche, Ritter, Burgen und Hexen. Und genau damit lassen sich die Vorurteile gegenüber dem Mittelalter gut dekonstruieren, so Oschema.
Also keine Hexen. Was hat dann das Mittelalter geprägt?
Neue Forschungen über das Mittelalter
Geschichtsforschung und Archäologie haben zuletzt einige überraschende Erkenntnisse zutage gefördert. So wird von den sharing communities im Mittelalter berichtet, von Waldgenossenschaften und anderen nachhaltigen Konzepten, von Baustoffrecycling und sozialem Wohnungsbau. Kurz: von einer überaus vielfältigen und spannenden Zeitspanne, die rund 1.000 Jahre zwischen 500 und 1500 andauerte – und die einen neuen Blick wert ist.
Hier sieben der wichtigsten Erkenntnisse:
1. Im Mittelalter wurde viel weniger gearbeitet als bisher vermutet
Annette Kehnel, Professorin für mittelalterliche Geschichte an der Uni Mannheim, hat sich unter anderem mit dem Arbeitspensum der Menschen im Mittelalter beschäftigt. Auch das ist nämlich eine falsche Vorstellung, dass tagein tagaus von früh bis spät geschuftet wurde.
Erst während der Reformation wurde die Fünf-Tage-Woche abgeschafft und mehr gearbeitet. Bis dahin war der blaue Montag durchaus üblich, genauso wie ein Frontag, also ein Arbeitstag für den Herrn – beziehungsweise: nur ein halber Arbeitstag. Es gab also Freizeit und in dieser Zeit muss es auch Raum für Schönes, Interessantes, Fröhliches gegeben haben.
2. Im Mittelalter kannte man bereits pandemische Maßnahmen
Manche Stereotype sind aber auch nicht vollkommen falsch. Die Pest etwa war tatsächlich eine schlimme Bedrohung für die Menschen im Mittelalter. Vor allem, als die Krankheit noch kaum bekannt war und die Menschen keine Idee hatten, wie sie mit ihr umgehen sollten. Seit dem Ausbruch in der Mitte des 14. Jahrhunderts fielen der Pest zwischen 20 und 35 Prozent der Bevölkerung zum Opfer.
Doch im Laufe der folgenden Jahrzehnte lernten die Menschen, mit der Pest umzugehen. Sie entwickelten pandemische Maßnahmen, die wir auch heute kennen. Sie mieden Orte, an denen die Pest grassierte, und verlegten Großereignisse, Feste und Märkte. Ein Beispiel dafür, wie lernfähig und kreativ die Menschen des Mittelalters waren.
3. Die europäische Universität wurde im Mittelalter erfunden
Viele Erfindungen, von denen wir noch heute profitieren, stammen außerdem aus dieser Zeit. Die Brille zum Beispiel. Und auch eine hochkomplexe Institution wie die Universität entstand im Mittelalter, etwa in der Zeit um 1200.
4. Frauen konnten im Kloster endlich machen, was sie wollten
Das Klosterleben bot für viele Frauen im Mittelalter entgegen allen Klischees einen Raum besonderer Freiheiten. Das fing schon damit an, dass sie zum Beispiel nach dem Tod ihres Ehemanns hier Zuflucht finden konnten.
Eva Schlotheuber hat gemeinsam mit Henrike Lähnemann, die deutsche Literatur des Mittelalters an der Uni Oxford lehrt, im Frühjahr 2023 ein Buch veröffentlicht: "Unerhörte Frauen – Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter". Auch Janina Ramirez porträtiert Wissenschaftlerinnen, Mäzeninnen, Gesetzlose und Anführerinnen des Mittelalters in ihrem Buch "Femina – Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen".
Diese Forschungsergebnisse zeigen, wie weit der Horizont dieser Frauen gewesen sein muss, denn sie reisten zum Teil viel und tauschten sich mit vielen anderen aus.
Wie nannte man das "Mittelalter" im Mittelalter?
5. Das Mittelalter war divers
Das Mittelalter war zudem keine Zeit, in der in Europa nur weiße Menschen lebten, eine Stadt wie London war schon damals sehr divers und vermutlich wesentlich vielfältiger als lange Zeit angenommen. Vor 100 Jahren hätte man darüber noch die Geschichte der großen weißen Männer geschrieben, die politische Ereignisse dominieren. Jetzt fragt man: Wie setzt sich die Gesellschaft zusammen, wie durchmischt und divers waren Gesellschaften?
6. Das Mittelalter war sozial und nachhaltig
Von den über 1.500 verschiedenen Berufen im mittelalterlichen Frankfurt war ein großer Teil im Bereich Reparatur angesiedelt. Heute gibt es in Deutschland insgesamt nur noch 326 Ausbildungsberufe.
Annette Kehnel, Professorin für mittelalterliche Geschichte an der Uni Mannheim, hat sich zudem genauer mit dem mittelalterlichen Wirtschaften beschäftigt. "Wir konnten auch anders – Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit", heißt ihr Buch. Sie beschreibt darin, wie ressourcenschonendes, nachhaltiges und gemeinnütziges Denken im Mittelalter funktionierte.
Denn praktisch alles bis aufs letzte Hemd wurde im Mittelalter wiederverwertet. Das Wort "Abfall" tauche erst im frühen 20. Jahrhundert in Wörterbüchern auf, schreibt Kehnel. Aber auch Projekte mit Gemeinsinn stellt sie vor:
7. Das Mittelalter kann unsere Zukunft inspirieren
Die vielen Klischees vom Mittelalter werden zwar bereits seit den 1970ern hinterfragt. So intensiv wie heute aber wohl noch nie. Kann das Mittelalter uns sogar Ideen liefern, wie wir heute leben, wirtschaften, füreinander sorgen wollen?
SWR 2023
Buchtipps
- Annette Kehnel: "Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit". Blessing Verlag 2021
- Henrike Lähnemann, Eva Schlotheuber: "Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter". Propyläen Verlag 2023
- Janina Ramirez: "Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen". Aufbau Verlag 2023