SWR2 Wissen

Geraubte Ideen – Wie die Nazis jüdische Bücher arisierten

Stand
Autor/in
Julia Smilga
Julia Smilga
Onlinefassung
Candy Sauer

Ungezählte Werke jüdischer Wissenschaftler oder Sachbuchautorinnen wurden in der NS-Zeit "arischen" Verfassern zugeschrieben – sei es ein juristischer Kommentar, ein medizinisches Lexikon oder ein Kochbuch.

Dieser Diebstahl geistigen Eigentums ist bis heute kaum aufgeklärt, die Nazi-Namen sind geblieben – auch, weil viele Verlage ungern ihre Archive öffnen. Doch mit jedem neu entdeckten Fall wächst der öffentliche Druck.

Alice Urbach: erfolgreiche Köchin im Wien der 1920er

Während die Romane jüdischer Autorinnen und Autoren im NS-Regime meist verbrannt wurden, bekamen Sachbücher teils "arische" Verfasser. Vom medizinischen Nachschlagewerk bis zum einfachen Ratgeber – hinter den sogenannten arischen Autorennamen verbergen sich bis heute etliche Plagiate, geistiges Eigentum, das den jüdischen Verfasserinnen geraubt wurde. Dieser Diebstahl ist bislang kaum aufgeklärt.

Karina Urbach ist eine der ersten Historikerinnen, die sich dem Thema widmet und breite Aufmerksamkeit erhält. Vermutlich auch, weil ihr Fall ein persönlicher ist. Ihre Großmutter Alice Urbach wird 1886 in Wien in eine bürgerliche jüdische Familie hineingeboren. Ihr Vater, ein reicher Textilfabrikant, war politisch sehr aktiv.

Mit 32 Jahren beginnt Alice Urbach selbst Geld zu verdienen – und zwar als Köchin. Kochen ist ihre Leidenschaft. Völlig verarmt, macht sie aus ihrer Begabung eine Einnahmequelle. Zu Beginn der 1920er-Jahre eröffnet Alice Urbach in Wien eine Kochschule für angehende Ehefrauen – und wird mit ihren Rezepten für Tafelspitz oder Marillenknödel berühmt.

"So kocht man in Wien!": Jüdische Autorin schreibt Bestseller – und muss fliehen

1935 veröffentlicht Alice Urbach ihr ganzes Wissen in dem Kochbuch "So kocht man in Wien!". Das Buch erscheint im Münchener Ernst Reinhardt Verlag. Die 500 Seiten starke Enzyklopädie der Wiener Küche ist ein Bestseller, bis 1938 wird das Buch in drei Auflagen 25.000 Mal verkauft.

Doch nach dem sogenannten Anschluss Österreichs 1938 untersteht Alice Urbach als Jüdin den Nürnberger Rassegesetzen. Werke jüdischer Autorinnen und Autoren werden nicht mehr verlegt

Das hatte man schon vorher mit anderen jüdischen Autoren in Deutschland gemacht. Und das passierte ihr jetzt auch, dass ihr Buch "arisiert" wurde und dass sie einen Vertrag unterschrieb, 1938, also kurz bevor sie flieht, in dem sie alle Rechte aufgibt, auch für zwei weitere Bücher, die sie für den Ernst Reinhardt Verlag geschrieben hat. Sie unterschrieb für eine kleine Geldzahlung, die sie dringend brauchte, denn sie wollte ja nach England fliehen.

Alice Urbach entdeckt ihr Buch nach Kriegsende – unter falschem Namen

Alice Urbach und ihren Söhnen gelingt die Flucht und sie überleben. Der Rest der Familie wird von den Nazis ermordet. Bald nach Kriegsende besucht Alice Urbach Wien. In einer Buchhandlung entdeckt sie zufällig ihr Kochbuch. Allerdings nicht mit ihrem Namen darauf. Der Verfasser heißt jetzt Rudolf Rösch. Als sie das Buch aufschlägt, ist klar: Es sind ihre Texte, ihre Rezepte, ihre Fotos.

Das arisierte Kochbuch "So kocht man in Wien!" von Alice Urbach wurde nahezu unverändert unter dem erfundenen Namen Rudolf Rösch weiter verkauft. Lediglich ein paar jüdische Rezeptnamen wie z.B. Jaffa-Torte wurden entfernt. Auf Fotos im Buch sind weiterhin die Hände der jüdischen Köchin und Autorin zu sehen.
Das arisierte Kochbuch "So kocht man in Wien!" von Alice Urbach wurde nahezu unverändert unter dem erfundenen Namen Rudolf Rösch weiter verkauft. Lediglich ein paar jüdische Rezeptnamen wie z.B. Jaffa-Torte wurden entfernt. Auf Fotos im Buch sind weiterhin die Hände der jüdischen Köchin und Autorin zu sehen.

Ernst Reinhardt Verlag übernimmt zunächst keine Verantwortung ...

Alice Urbach wendet sich an den Verlag, sie will ihre Autorinnenrechte zurück. Sie argumentiert: Das Buch sei ihr 1938 unter Druck genommen und arisiert worden und diese Arisierung solle jetzt beendet und rückgängig gemacht werden. Doch sie erreicht nichts. Auch als ihre Enkelin Karina Urbach sich Jahrzehnte später entschließt, ein Buch über ihre Großmutter und das Unrecht, das ihr angetan wurde, zu schreiben, bekommt sie vom Ernst Reinhardt Verlag in München dieselbe Antwort – sämtliche Archivunterlagen seien in den Kriegswirren verschwunden

... doch entschuldigt sich später

Die Oxforder Historikerin Karina Urbach hat keine Unterlagen aus dem Archiv vom Ernst Reinhardt Verlag in München bekommen, als sie zur "Arisierung" des Kochbuchs ihrer Großmutter Alice Urbach recherchierte. Im Oktober 2020 veröffentlichte die Historikerin dann im Ullstein Verlag ein vielbeachtetes Buch, eine Art Andenken an ihre Großmutter mit dem Titel: "Das Buch Alice". Der Titel wurde mittlerweile in fünf Sprachen übersetzt. Sein Erfolg hat dazu geführt, dass der Ernst Reinhardt Verlag nun doch auf Karina Urbach zugegangen ist. In dem Verlagsarchiv hätten sich jetzt Dokumente zu der Autorinnenschaft ihrer Großmutter gefunden, ließ man sie wissen – dazu insgesamt 18 Briefe von Alice Urbach an den Verlagsinhaber in den 1950er-Jahren.

Der Verlag hat sich formell bei Karina Urbach entschuldigt und er hat Taten folgen lassen.

Alice Urbach hat nach dem Krieg darunter gelitten, dass ihr Werk nicht mehr in der Originalfassung mit ihrem Namen erschienen ist. Wir bewerten das damalige Verhalten des Verlages als moralisch nicht vertretbar.

Karina Urbach berichtet:

Sie haben ja dann mir und meiner Cousine die Rechte für Alices Buch wiedergegeben, was bedeutete, dass sie nach 80 Jahren zum ersten Mal wieder Autorin ihres eigenen Buches war.

Die erfolgreiche jüdische Köchin Alice Urbach stellte 1935 ihre Rezepte zu dem Bestseller "So kocht man in Wien!" zusammen. Das Buch erschien 1935 im Ernst Reinhardt Verlag München und wurde 1938 arisiert. Bis 1966 erschien es unter dem erfundenen arischen Namen Rudolf Rösch. 2020 brachte der Verlag eine limitierte Neuauflage heraus – unter Alice Urbachs Namen.
Die erfolgreiche jüdische Köchin Alice Urbach stellte 1935 ihre Rezepte zu dem Bestseller "So kocht man in Wien!" zusammen. Das Buch erschien 1935 im Ernst Reinhardt Verlag München und wurde 1938 arisiert. Bis 1966 erschien es unter dem erfundenen arischen Namen Rudolf Rösch. 2020 brachte der Verlag eine limitierte Neuauflage heraus – unter Alice Urbachs Namen.

"So kocht man in Wien!" erscheint als limitierte Ausgabe – unter Alice Urbachs Namen

Darüber hinaus hat der Verlag den Originaltitel von Alice Urbach 2020 in limitierter Ausgabe herausgebracht – als Geste der Wiedergutmachung und um dem Andenken der Autorin gerecht zu werden.

Seit Erscheinen des Buches über ihre Großmutter hat Karina Urbach Hinweise auf weitere Raubgeschichten aus der Nazizeit bekommen. Ob Jura, Finanzwesen oder ein Buch zur deutschen Sprache – es deutet alles darauf hin, dass weitere Plagiate und Raube geistigen Eigentums ans Licht kommen.

SWR 2021

Karina Urbach "Der Antisemitismus von links hat mich entsetzt"

Der Antisemitismus von links nach dem Terroranschlag der Hamas beunruhigt die Historikerin: „Dass man danach noch Leute hat, die das relativieren wollen, hat mich wirklich entsetzt“.

SWR2 Zeitgenossen SWR2

Gespräch Wie die Nazis ein Kochbuch raubten – Karina Urbach und ihre Familiengeschichte

Die Jüdin Alice Urbach war in den 1930er Jahren eine erfolgreiche Köchin. Ihr Kochbuch So kocht man in Wien! wurde von den Nazis geraubt und unter einem anderen Namen veröffentlicht. 

SWR2 Tandem SWR2

Nationalsozialismus

Gewalt Rechtsextreme im Kampfsport – Trainieren für den Straßenkampf

Sie prügeln sich in Szene-Sportclubs oder in aller Öffentlichkeit in Parkanlagen, sie trainieren, für den Tag X eines gewaltsamen Systemumsturzes. Oder sie überfallen politische Gegner. Von Florian Barth und Kai Laufen (SWR 2024) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/rechtsextreme-kampfsport | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: daswissen@swr.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@DasWissen

Das Wissen SWR Kultur

Freiburg

Retrospektive im Freiburger Augustinermuseum Liebe und Verrat: Die Bildwelten des verfemten Expressionisten Fritz Ascher

Fritz Ascher wurde als Maler verfemt und als Jude verfolgt. Das Haus der Graphischen Sammlung im Freiburger Augustinermuseum widmet dem Expressionisten eine Ausstellung.

SWR Kultur am Mittag SWR Kultur