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Die Geschichte der Sozialpsychiatrie – Integrieren statt wegsperren

Stand
Autor/in
Franziska Hochwald
Franziska Hochwald
Onlinefassung
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Psychisch kranke Menschen wurden bis zur Psychiatrie-Enquete 1975 in „Verwahranstalten“ mit Medikamenten ruhiggestellt. Die Sozialpsychiatrie ermöglicht eine andere Behandlung. Was hat zu dieser Reform geführt?

Um 1800: Medizin interessiert sich für seelische Leiden

Während im Mittelalter die Irren in Narrentürme gesperrt wurden, begann die Medizin sich um 1800 für seelische Leiden zu interessieren. Psychisch kranke Menschen sollten nicht mehr einfach nur ausgegrenzt werden, sondern geheilt, erläutert Burkhart Brückner, Professor für Sozialpsychologie an der Hochschule Niederrhein.

Die neuen Krankenhäuser waren aber von Beginn an auch Einrichtungen, in denen Menschen, die sich nicht den Normen der Gesellschaft unterwerfen konnten oder wollten, diszipliniert und eingesperrt werden sollten. Im 19. Jahrhundert gerieten die psychiatrischen Anstalten mit der Verarmung großer Bevölkerungsanteile immer mehr zu Verwahrorten für alle, die als gesellschaftlich nutzlos angesehen wurden, so Burkhart Brückner.

68er-Bewegung: Muss der Kapitalismus in die Psychiatrie?

Die Gesellschaft hat im Zuge der 68er-Bewegung um einen neuen Blick auf psychische Krankheit gerungen. Zwei Positionen standen sich unversöhnlich gegenüber: Die reformorientierten Vertreter der Psychiatrie suchten nach neuen Behandlungsformen. Dagegen war die antipsychiatrisch orientierte Betroffenenorganisation des Sozialistischen Patientenkollektivs in Heidelberg der Auffassung, dass nicht die Menschen mit psychischen Störungen geheilt werden mussten, sondern dass es die kapitalistische Gesellschaft selbst war, bei der Behandlungsbedarf bestand.

Psychiatrie-Enquete von 1975: neue Wege im Umgang mit kranken Menschen

Die Suche nach neuen Wegen in der Psychiatrie führte schließlich zur Psychiatrie-Enquete von 1975. Dieser wissenschaftliche Untersuchungsausschuss markierte einen Wendepunkt im Umgang mit psychisch kranken Menschen in Deutschland. Die Forderungen darin haben bis heute Gültigkeit: Es sollte ein bedarfsgerechtes gemeindenahes Versorgungssystem aufgebaut werden. Die Kliniken sollten verkleinert und durch ambulante Dienste ergänzt werden und seelisch Kranke rechtlich, sozial und finanziell den körperlich Kranken gleichgestellt werden.

Unterstützung für psychisch kranke Menschen geht aktuell zurück

Das waren hoffnungsvolle Ansätze für eine Psychiatrie, die nicht ausgrenzt, sondern Menschen mit psychischen Erkrankungen in das ganz normale Leben der Gesellschaft zurückholt. Doch inzwischen ist das nicht mehr so einfach. Die Bereitschaft in der Bevölkerung, psychisch kranke Menschen zu unterstützen, sei heute eher zurückgegangen, meint Jens Bullenkamp, Leiter der Gemeindepsychiatrie des Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit. Und auch die Menschen mit psychischen Themen suchen ihre Kontakte heute zunehmend im Internet. Nicht nur soziale Veränderungen erschweren die Arbeit, auch die Ökonomisierung von Gesundheit fordert ihren Preis.

Der Einsatz von Medikamenten in der Psychiatrie steht ebenfalls in der Kritik. In den vergangenen zehn Jahren wurden laut Techniker-Krankenkasse fast doppelt so viele Psychopharmaka verschrieben: 2009 waren es 8,5 Tagesdosen pro Versichertem, im Jahr 2019 waren es mit 15,6 Dosen fast zwei Mal so viel. Das liegt vor allem daran, dass Hausärztinnen und Hausärzte ihren Patienten immer noch häufig lieber Medikamente verschreiben, als sie auf dem Weg zu einer Therapie zu begleiten. Doch auch die allermeisten Psychiater sehen Tabletten nach wie vor als unverzichtbar.

Hände halten einander: Im Verlauf eines Jahres ist in Deutschland etwa jeder vierte Erwachsene von einer psychischen Erkrankung betroffen
Im Verlauf eines Jahres ist in Deutschland etwa jeder vierte Erwachsene von einer psychischen Erkrankung betroffen

Jeder vierte Deutsche von psychischen Erkrankungen betroffen

Im Verlauf eines Jahres ist in Deutschland etwa jeder vierte Erwachsene von einer psychischen Erkrankung betroffen. In akuten psychischen Krisen ist eine Unterbringung in der Psychiatrie immer noch die häufigste Form der Therapie. Jährlich werden dort über 800.000 stationäre Behandlungen durchgeführt. Doch es geht auch anders: In Bochum bietet der dortige Landesverband Psychiatrie-Erfahrener bereits seit 25 Jahren eine Alternative zur psychiatrischen Station: Zwei Krisenzimmer, offen für alle Menschen, die jemanden brauchen, der ihnen zuhört.

Lange Zeit wurden die Wahrnehmungen, die psychisch kranke Menschen von sich und ihrer Welt haben, als reine Störungen verstanden. Doch daneben gibt es Ansätze, die auch die Inhalte ernst nehmen. Wegweisend ist hier Thomas Bock, Professor für klinische und Sozial-Psychiatrie am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf und ehemaliger Leiter der sozialpsychiatrischen Ambulanz. In seinen Seminaren entwickelte er den Ansatz des Trialogs.

Dorothea Buck: treibende Kraft bei der Entwicklung des Trialogs

Dorothea Buck wurde zu einer treibenden Kraft bei der Entwicklung des Trialogs, also des Gesprächs zwischen Therapeuten, Betroffenen und Angehörigen als Grundlage für alle Entscheidungen. Dorothea Buck war eine Überlebende der Nazi-Diktatur, die von der NS-Psychiatrie zwangssterilisiert worden war. Sie bereicherte das Seminar, indem sie mit den Studierenden ihre Sicht auf ihre Psychose teilte und ihnen dadurch neue Perspektiven aufzeigte.

Die trialogische Haltung führte für Thomas Bock auch zu einer neuen Sicht auf psychische Störungen als Bewältigungsstrategien mit einem fließenden Übergang zwischen gesund und krank. Ein Verständnis von Psychosen, das sie nicht nur als Krankheit sieht, sondern den ganzen Menschen mit seiner Lebensgeschichte in den Blick nimmt, wird inzwischen auch von einer ganzen Reihe von Verbünden berücksichtigt. Einer davon ist das Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, das ZfP. Dort gibt es die stationsäquivalente Behandlung, kurz STÄB.

Heutige Psychiatrie weit entfernt von flächendeckenden flexiblen Therapieformen

Das STÄB-Modell besteht parallel zur Behandlung in den psychiatrischen Stationen und ist gedacht für Menschen, die mit der herkömmlichen Form der Hilfe nicht gut zurechtkommen, aber trotzdem akut Unterstützung brauchen.Täglich bekommen die Patientinnen und Patienten Besuch zu Hause von einem Mitglied des Betreuungsteams, bestehend aus Ärzten, Pflegekräften, Sozialdienst, Psychologinnen, aber auch Musik- oder Bewegungstherapeuten. Die bisherigen Erfahrungen weisen darauf hin, dass diese mobile Behandlung nicht teurer ist als die stationäre, so ZfP-Regionaldirektor für den Bereich Alb-Neckar Gerhard Längle.

Es gibt sie also, die flexiblen, wohnortnahen Therapieformen. Für viele Menschen mit psychischen Störungen sind die Angebote von Gemeinde- und Sozialpsychiatrie eine immense Lebenshilfe. Doch nach wie vor ist die heutige Psychiatrie weit entfernt davon, therapeutische Möglichkeiten auch flächendeckend flexibel und unbürokratisch anzubieten.

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