JetztMusik - Glossar

Klangkunst

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„Plastik hört man, bevor man sie sieht. Das Ohr ist ein Wahrnehmungsorgan für Plastik.“ Als Joseph Beuys 1972 diesen progressiven Gedanken äußerte, sprach von Klangkunst noch niemand. Erst gut zehn Jahre später fand man für die ästhetischen Konzeptionen im Grenz- und im Zwischenbereich von Bildender Kunst und Musik einen passenden Namen, den der angloamerikanische Kulturraum mit der Vokabel „Sound Art“ bereits etwas früher kannte. Klangkunst ist Kunst und Klang, ist die gleichberechtigte Verbindung von Klang/Geräusch (ohne Aufführung) mit visueller Objektkunst. Zumindest in den Anfängen der neuen Kunstsparte, in der eine vielfach erweiterte Idee von Skulptur mit einer ebenso erweiterten Vorstellung von Musik einherging, in der Optisches und Akustisches untrennbar miteinander verschmolzen.

Seit den frühen 1980er Jahren haben sich die Phänomene dieser multisensorischen Kunst stark verändert. Das führte zu einer Erweiterung des Begriffs Klangkunst, dessen terminologische Konturen übrigens nie deutlich gezogen wurden. In der Kunstwissenschaft spielt der Begriff auch kaum eine Rolle; er ist eher in der deutschen Musikwissenschaft beheimatet, wenngleich in den seltensten Fällen in den Fachlexika aufgeführt. Begriffe wie Sonic Art, Audioart, Ars Acustica oder Akustische Kunst sind längst Synonyma.

Klangkunst meint heute jene Vielfalt und Vielzahl künstlerischer Spielarten, für die das traditionelle Vokabular der Musik und der Bildenden Kunst nicht mehr ausreicht und für die noch kein oder nur kaum ein eigenes vorliegt. So kann Klangkunst das sein, was stumm uns anschreit, aber auch das, was leise oder laut tönt, ohne dass die Optik der Umgebung verändert worden wäre, ohne dass es eine eigens aufgestellte Skulptur zu sehen gäbe. Der Raum sieht aus wie gewöhnlich, doch jetzt klingt hier irgendetwas. Der Ort ist in seiner Spezifik akustisch inszeniert und deswegen nicht mehr der, der er zuvor gewesen ist. Das hörbare Geschehen nun aber Musik zu nennen, wozu John Cage uns allen vor vielen Jahren die Lizenz erteilt hat, griffe zu kurz. Denn nur ums Hören geht es in diesen Arbeiten nicht. Wir sollen zugleich neu sehen, manchmal auch nur mittels der Ohren neu sehen, den Raum mit den akustischen Extras neu erkunden, unsere Umgebung als Plastik und uns selbst als Teil der Plastik erleben.

In der Klangkunst, die sowohl in Räumen wie im Freien platziert sein kann, spielt die Technik oft eine zentrale Rolle. Klangkunstarbeiten können medial gebunden sein, interaktive Prozesse auslösen; sie können sich im oder als Video, als Film manifestieren, Klangkunstarbeiten können virtuell im Internet stattfinden, müssen sie aber nicht. Alles Fragen der Inszenierung: Wie bildhaft oder haptisch sind Klänge? Wie hörbar sind Gesten, Bildmotive, Sichtwelten? Wie sind sie miteinander verknüpft? Welchen Freiraum, welche Eigenzeit ermöglichen sie dem Besucher? Klangkunst heute – das ist ein
begrifflich schwieriges wie phänomenologisch schier unüberschaubares Genre, das sich rasant und in mannigfachen Dialekten weiterentwickelt.

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Autor/in
SWR