Sie sind ein Rätsel der Neuen Musik. Beispiele: Metastaseis, Tombeau, Anaklasis, Réak, Lontano, Sub-Kontur, Komposition 2, Keine großen Sprünge – Kopfschütteln – Schlängeln, und als wir, Erinnerung, Plötzlichkeit.* Wie kommen solche Werktitel zustande? Und wann: vor, während oder nach dem Komponieren? Sollen oder wollen sie dem Publikum etwas mitteilen? Sollen Titel die Ohren in bestimmte Richtungen lenken, gewisse Erwartungshaltungen schüren? Sollen sie Hörhilfen sein, mithin gar eindeutige Spuren legen, vielleicht sogar politische? Haben die Werke nur deswegen Namen, damit die ästhetischen Kinder sich besser benennen lassen? Titel wie „Stück 41“ oder „Werk 23a“ sind oft Ausdruck einer Titelverweigerung oder stehen für die bewusste Neutralität dem musikalischen Inhalt gegenüber, wenn z. B. nur die Zeit des entsprechenden Stückes zum Titel gemacht wird oder die Besetzung. Mit solchen eher „nichtssagenden“ Titeln tut sich die Musikwelt offensichtlich schwer. Spätestens wenn solche Stücke ein Hit werden, verleiht ihnen das Publikum (sprechende) Beinamen: Man denke etwa an das „Sonnenaufgangsquartett“ oder die „Schicksalsinfonie“. In der Geschichte der Neuen Musik ist solches wohl noch nicht vorgekommen. Meist entscheiden sich die Gegenwartskomponisten bei der Wahl ihrer Werktitel für prägnante Begriffe aus den Naturwissenschaften, Termini aus den Nachbarkünsten, markante Wörter aus der Alltagssprache (auch polyglott), zitieren poetische Zeilen bekannter und unbekannterer Dichter (Hölderlin). Manchmal wollen sie sich mit ihren Titeln bewusst von der Musikgeschichte abgrenzen, manchmal gerade dieselbe assoziativ heraufbeschwören.
[* Die Urheber dieser Werke sind Iannis Xenakis, Pierre Boulez, Krzysztof Penderecki, Isang Yun, György Ligeti, Wolfgang Rihm, Jörg Herchet, Mathias Spahlinger, Dieter Schnebel, Peter Ruzicka, Brian Ferneyhough. Alle Kompositionen wurden bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt: 1955, 1959, 1960, 1966, 1967, 1977, 1985, 1993, 1995, 2000 bzw. 2006.]