Rezept 1: Man nehme ein altes Kirchenlied, die Nationalhymnen zweier Länder aus Mitteleuropa und Südamerika, einen Viertakter aus einem italienischen Madrigal, eine sehr markante Passage aus dem Werk eines befreundeten Komponisten oder etwas aus einem eigenen Stück – nun vermische man die Ingredienzien mit selbstgemachten Zutaten. Rezept 2: Man nehme die vier oder sechs Schlusstakte aller Klaviersonaten eines bekannten Komponisten aus dem 19. Jahrhundert. Mit ihnen mache man ein neues Stück, eigene Zutaten gibt es nicht. Bei Rezept 1 werden verschiedene vorhandene Materialien in eine eigene Textur integriert, auf eine eigene Klangschicht „aufgeklebt“. In der Musikgeschichte seit 1960 begegnet man diesem Typus am häufigsten; am bekanntesten sind Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten (1963/64) und andere seiner Werke sowie Luciano Berios Sinfonia (1968/69). Bei Rezept 2 werden ausschließlich Materialien von anderen genommen und „zusammengeklebt“; Beispiele sind dafür Mauricio Kagel, Ludwig van. Hommage von Beethoven (1970); John
Cage, Europera I-V (1987–1991).
Voraussetzung der Collage ist immer das Zitieren von Materialien verschiedenen Ursprungs. Ihr liegt stets ein ästhetisches Prinzip mit Verweischarakter auf Bestehendes zugrunde. Man könnte das musikalische „Quodlibet“ der Renaissance oder das „Potpourri“ des 19. Jahrhunderts als Vorläufer der Collage ansehen, auch hier geht es um das gekonnte Zusammensetzen von Zitaten. Allerdings sind diese Arbeiten nicht Ausdruck einer heterogen erlebten Welt, sondern sie dienen der Kurzweil, zeigen die Könnerschaft des Komponisten, dienen einem gebildeten Auditorium als Findspiele. Indes geht es bei der Collage um die Integration von real erfahrenen Diskontinuitäten bzw. Pluralitäten ins Kunstwerk. Mit Aufkommen der elektroakustischen Technik, vor allem seit ihrer allgemeinen Verfügbarkeit, findet sich das Prinzip Collage in nahezu allen Sparten und Konzeptionen der Gegenwartsmusik sowie dem weiten Feld der Ars Acustica. Das Wort Collage leitet sich aus dem französischen Verb „coller“ ab (= an-, aufkleben); es geht zurück auf die „Papiers collées“, mit denen George Braque und Pablo Picasso den üblichen Entstehungsprozess von Tafelbildern durchbrachen, indem sie Wachstuchstücke und Tapetenfragmente in ihre Leinwandmalerei integrierten. Seither benutzt man den Begriff Collage für künstlerische Gebilde aller Genres, die bereits
existierende Alltags- oder Kunstdinge einbinden oder nur aus ihnen zusammengestellt wurden.