Erfinder der „Russendisko“

Wladimir Kaminer: „Ich finde die Musik noch immer gut“

Stand
Das Interview führte
Leonie Reineke
Michael Rebhahn

Auch wenn manche das glauben: „Russendisko“ ist nicht der Drittname von Wladimir Kaminer. Aber ein gewisses Synonym ist sie für diesen russisch-deutschen Autoren, Kolumnisten und Bühnenmenschen geworden.

Eine Musikveranstaltung mit vielen Kindern

Die „Russendisko“ ist nicht nur ein Buch, sondern vor allem eine legendäre Musikveranstaltung im nicht weniger legendären Kaffee Burger in der Nähe zur Volksbühne Berlin. Mit sehr speziellen Tapeten war das noch ein Ort jener DDR, in die der geborene Moskauer Wladimir Kaminer übergesiedelt ist.

Diese Musikveranstaltung hat „viele uneheliche Kinder in die Welt gesetzt“, sagt Kaminer lachend. So entstand z.B. in Österreich die Band Russkaja, „da konnte man uns auch die Vaterschaft andichten“. Doch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine löste sich die Band im Februar 2023 auf. „Es ging nicht mehr.“

Ich finde die Musik noch immer gut. Die Musik trägt in meinen Augen keine Schuld. Die kannibalistischen Regime kommen und gehen, aber die Musik, sie bleibt.

Trailer zum Film „Russendisko“ von 2012

Russendisko - Der Sound der Russendisko (Featurette)

Russische Kultur in Zeiten des Krieges    

In Bezug auf den Ukraine-Krieg findet Kaminer, dass die russische Kultur nicht untergehen solle. Sie sei Weltkultur und man dürfe sie jetzt nicht „zugunsten der politischen Situation irgendwelchen Schurken überlassen“.

Nur weil im Kreml so eine verblödete Regierung sitzt, heißt das nicht, dass Tschaikowsky dafür die Schuld tragen muss.

Kaminer erzählt zu Tschaikowsy, dass damals in den letzten Jahren der Sowjetunion immer der „Tanz der vier kleinen Schwäne“ aus dem Schwanensee im Fernsehen übertragen wurde, wenn ein Generalsekretär gestorben war – 1982 Leonid Breschnew, 1984 Juri Andropow und 1985 Konstantin Tschernenko. „Die starben damals wie die Fliegen, alle nacheinander.“

Heute würden viele liberale Medien, die wegen des Krieges das Land verlassen mussten, diese Musik häufig einsetzen, um ihrer Hoffnung auf ein baldiges Ende des Regimes Ausdruck zu verleihen.

„Tanz der vier kleinen Schwäne“ auf YouTube

Der Tanz der vier kleinen Schwäne, Schwanensee

Kaminers kulturpolitische Literatur macht Spaß

Mit stets offener Neugier beobachtet Wladimir Kaminer fast wie ein Ethnologe, was man hierzulande so unter Kultur versteht. Was er schreibt, ist alles ernst gemeint. Lustig macht er sich nie über seine Gegenstände. Die russische Seele empfindet immer mit.

Nur der bewusst eingesetzte russische Akzent bringt erholsame Ironie mit sich. So macht diese Art der kulturpolitischen Literatur oft auch Spaß. Ernst ist das Leben, heiter die Kunst und sie heißt Wladimir.

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Anja Brockert im Gespräch mit Wladimir Kaminer.
Goldmann Verlag, 192 Seiten, 16 Euro
ISBN: 978-3442206247

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