Die Anfänge des volkstümlichen deutschen Wiegenlieds liegen im Dunkeln. Da das Wiegenlied in vielen Kulturen verbreitet ist, wird die Tradition, Säuglinge wiegend in den Schlaf zu singen, weit vor den ersten schriftlichen Belegen im späten Mittelalter eingesetzt haben. Ab dem 14. Jahrhundert finden sich unter den ersten deutschsprachigen Weihnachtsliedern zahlreiche Wiegenlieder, wie z. B. "In dulci jubilo" und "Josef, lieber Josef mein", die an der Krippe in der Kirche gesungen wurden.
Das volkstümliche Wiegenlied wurde mündlich und ohne Urheberschaft tradiert, bis am Ende des 18. Jahrhunderts ein reges Interesse am Volkslied einsetzte. Dichter wie J. G. Herder und später dann Achim von Arnim und Clemens Brentano sammelten Volkslieder und veröffentlichten sie in Sammlungen wie "Des Knaben Wunderhorn" (1805-1808). Im Gefolge schufen nun Komponisten ganz bewusst "Lieder im Volkston", darunter J. A. P. Schulz, der Schöpfer von "Der Mond ist aufgegangen", das dann von einem Kunstlied "im Volkston" tatsächlich zu einem der beliebtesten deutschen Volkslieder wurde.
Ähnlich erging es Johannes Brahms mit "Guten Abend, gut Nacht", das - als Kunstlied komponiert - heute in vielen Spieluhren über Bettchen zum Einschlafen gespielt wird. Auch Dichter wie Hoffmann von Fallersleben verfassten Texte, die mit den Jahren zu "Volksliedern" wurden (u.a. "Wer hat die schönsten Schäfchen", ,"Abend wird es wieder").
Unter den zahlreichen Wiegenliedern im Volkston ragen besonders die Vertonungen von Engelbert Humperdinck, Wilhelm Taubert und Carl Reinecke heraus. Das Wiegenlied wurde eines der klassischen Typen des deutschen Kunstlieds, ja, fand sogar als "Berceuse" (franz. le berceau: die Wiege) Eingang in die Instrumentalmusik. Fast alle großen Meister des romantischen Lieds, Schubert, Schumann, Brahms, Mendelssohn, Cornelius und Reger, komponierten Wiegenlieder. Ihre Lieder spiegeln dabei das volkstümliche Wiegenlied, nicht allein im charakteristischen Wiegenrhythmus und der gedämpften Lautstärke, sondern auch in refrainartigen "Lautworten" wie "eia popeia" oder "lululu" und in den Bildern von Bäumen, Vögeln, Schafen und Engeln.