Schon wenige Wochen nach ihrer Uraufführung am 15. April 1774 am King's Theatre in London erlebte die Kantate von Johann Christian Bach, des jüngsten Bach Sohns, am 11. August 1774 ihre deutsche Erstaufführung im Rokokotheater Schwetzingen. Nach rund 250 Jahren kehrt das Werk mit dem Dirigenten Jörg Halubek und seinem Ensemble il Gusto Barocco an diesen historischen Ort zurück. Im Interview mit unserer Mitarbeiterin Bianca Bapst verrät der Dirigent auf was man sich im Mai bei den Festspielen freuen kann.
Bianca Bapst: Amor vincitore zählt zu jenen Werken, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung viel Wertschätzung erfahren haben, danach von den Spielplänen verschwanden und auch heutzutage nur selten gespielt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Worin liegt der Reiz dieser seit 250 Jahren nicht mehr häufig gespielten Kantate?
Jörg Halubek: Nicht nur Amor Vincitore – das ganze Œuvre des jüngsten Bach-Sohnes Johann Christian liegt eigentlich weitgehend im Schatten. Dabei ist seine Biographie aufregend, als einziger Bach-Sohn fand er einen Weg fernab der Kirchenmusik, studierte in Italien und wurde mit Aufführungen in Turin und Neapel ein angesehener Opernkomponist. Wie auch Händel wurde er ab 1762 Musikdirektor am King's Theatre in London. Dort lernte er den jungen Mozart kennen, beide schätzten sich gegenseitig. Er komponierte eine Oper und eine Serenata für den Mannheimer Hof, Amore vincitore wurde 1774 im Schwetzinger Schloss, der Sommerresidenz des Kurfürsten Carl Theodor, aufgeführt. Die Hofkapelle entwickelte sich unter Carl Theodor zu einem Orchester ersten Ranges mit Strahlkraft weit über die Grenzen Deutschlands hinaus und zog die wichtigsten Musiker und Komponisten an. Allein diese historischen Eckpunkte machen neugierig. Das etwa einstündige Werk hat zwei Protagonisten: der Schäfer Alcidoro verliebt sich in die Nymphe Dalisa. Ein Chor aus Schäferinnen kommentiert die Szenen. Amor selbst ist keine auftretende Figur, gleichwohl trifft sein Pfeil Dalisa im Schlaf, worauf die beiden ein Paar werden. Im Schlusschor besingen die Schäferinnen den siegreichen Gott der Liebe und geben der Kantate ihren Namen. Das Werk ist eine große musikalische Allegorie der Liebe mit vielen Fragezeichen, die wir in unserer szenischen Umsetzung beleuchten wollen.
Bianca Bapst: Johann Christian Bach hat Amor vincitore als Kantate bezeichnet, obwohl es als dramatisches Werk konzipiert vielmehr der Gattung Oper nahesteht. In zwei Sopranpartien schildert der Komponist die Geschichte zwischen Alcidoro und Dalisa. War es Kalkül oder Mode, indem Bach die Rolle Alcidoros ebenfalls als Sopran anlegte? Welche Folgen hat dies für die Dramatik und musikalische Struktur des Stücks?
Jörg Halubek: Auf der Titelseite des Librettos finden wir die Bezeichnung „Azione teatrale per musica“ – es handelt sich um eine kürzere opernhafte Form mit wenigen Personen, die für private aristokratische Gelegenheiten in Palästen oder Theatern gedacht war. Das Ideal der hohen Stimmen für die wichtigen Männer- und Frauenrollen würde ich als Konvention betrachten – auch wenn die Bewunderung der Kastraten natürlich immer an örtliche Begebenheiten gebunden war, bzw. von den Auftraggebern ausging. Für unsere szenische Auseinandersetzung wirkt es geradezu modern, dass zwei hohe Stimmen das Liebespaar bilden und Geschlechtergrenzen zumindest klanglich nicht aufscheinen. Das Regieteam bestehend aus Sebastian Bauer und dem Kollektiv staatsoper24 stellt Fragen nach dem Schlüssel der Liebe und der Kompliziertheit der Welt – am Ende ist die nicht abgrenzende Klangdisposition vielleicht eine einfache Antwort aus dem späten 18. Jahrhundert.
Bianca Bapst: Die Kantate ist nicht das erste Werk Johann Christian Bachs für den Mannheimer Hof unter der Regierungszeit des berühmten Kurfürsten Carl Theodor. Ein Jahr zuvor, 1773, gefiel dort bereits die Oper Temistocle und im selben Jahr, 1774, die szenische Aufführung der Kantate Endimione (1774). Bach pflegte während dieser Zeit Kontakt zu Musikern des Mannheimer Hofes. Gibt es in Amor vincitore Tendenzen, die an den Stil der Mannheimer Hofkapelle erinnern oder ist die Musik sogar bewusst den Fertigkeiten der Hofmusiker geschuldet?
Jörg Halubek: Die galante Komposition enthält dabei alle instrumentalen Farben, die die Mannheimer Hofkapelle zu bieten hatte: Flöten, Oboen, Fagotte, Klarinette und Hörner. Die Vokalparts mit zum Teil ausnotierten Verzierungen sind hoch virtuos. Auch die vordergründig stilbildenden Merkmale der Mannheimer Schule (Crescendo, Decrescendo, Unisono etc.) sind vorhanden, darüber hinaus klassische Secco-Rezitative und dramatische opernhafte Accompagnati. Johann Christian wusste genau, für wen er komponierte. Der besondere Reiz für uns Musiker wird sein, die vielfältigen nicht notierbaren musikalischen Schattierungen aufzuspüren, mit denen die Musikerinnen vor 250 Jahren zweifelsfrei auf höchstem Niveau musizierten, und Johann Christians Amor vincitore wieder lebendig und spannend zu machen.
Bianca Bapst: Das historische Werk wird begleitet von einer Neukomposition von Patrick Schäfer. Wie kann man sich die Verbindung beider Kompositionen vorstellen? Was ist zu erwarten?
Jörg Halubek: In der Aufführungspraxis des 17. und 18. Jahrhundert wurde die „weiterkomponierende“ Mitwirkung der Aufführenden vorausgesetzt, etwa bei den Verzierungen der Gesangslinien oder den großen Kadenzen am Ende von Arien, hier wurden in der Regel musikalische Figuren improvisatorisch wieder aufgegriffen, variiert oder Neues erfunden. Dieses grundsätzliche offene Konzept von Komposition und Ausführung bietet Freiräume auch für andere Klangsprachen. Zudem gibt es Hinweise, dass in der Schwetzinger Aufführung von Amor vincitore 1774 in der Schlafszene von Dalisa ein Ballett eingefügt wurde, zu der Amor dann tatsächlich bildlich erscheint. Die Musik ist nicht erhalten. Die Komposition von Patrick Schäfer ist noch im Entstehen und wir sind in Gesprächen, aber die erwähnte Praxis des „Weiterkomponierens“, etwa mit Figuren aus Bachs Komposition, soll an signifikanten Stellen wie der Ballettmusik aufgegriffen werden. Auch die besungenen „Zefiretti“, die Geräuschhaftigkeit der Winde werden eine Rolle spielen.
Bianca Bapst: Das Schwetzinger Rokokotheater ist Ihnen bekannt, Sie waren erst kürzlich als Gastdirigent dort. Amor vincitore realisieren Sie mit Ihrem eigenen Ensemble il Gusto Barocco und geben damit Ihr Debüt bei den Festspielen. Was zeichnet Ihr Ensemble aus? Auf was darf sich das Publikum der Festspiele ganz besonders freuen?
Jörg Halubek: Das Barockorchester il Gusto Barocco habe ich mit Kommilitonen während meiner Studienzeit an der Schola Cantorum in Basel gegründet. Wir realisieren besondere Projekte der Alten Musik, szenische Projekte, Wiederentdeckungen historischer Spielweisen (Improvisation oder Verzierungen) – und natürlich interessieren uns spannende Ausgrabungen ganz besonders. Repertoire, dass wir ohne jegliche Referenzen neu entdecken dürfen. Mit dem SWR konnten wir in den letzten Jahren eine Reihe von unbekannten Opern wieder ans Licht bringen, zuletzt die Barockoper Ercole Amante der 70-jährigen Komponistin Antonia Bembo.
Auch wenn ich als Musikalischer Leiter auftrete, in der Regel vom Cembalo aus, sehe ich il Gusto Barocco als Solistenorchester. Die Musikerinnen haben eigene Forschungsprojekte und es liegt in der Natur der Sache, dass bei der historischen Aufführungspraxis kein Status quo existiert. Neugier, Forschung, Experimentierfreude sind die Parameter. Die gemeinsame Probenarbeit ist daher oft zunächst ein „Update“ für alle, ein Austausch, ein gegenseitiges Inspirieren und dann die gemeinsame Umsetzung – natürlich alles im Dienst einer möglichst lebendigen und heutigen Aufführung. Für Amor Vincitore werden wir uns intensiv mit den spieltechnischen Besonderheiten der Mannheimer Schule auseinandersetzen, beispielsweise der sogenannte Mannheimer Strich: eine besondere Art der Bogenführung bei den Streichinstrumenten. Diese Arbeit beginnt schon jetzt, lange vor den eigentlichen Proben. Hier sehe ich übrigens eine Parallele zur Mannheimer Hofkapelle, die auch den Charakter eines Solistenorchesters hatte und aus Komponisten und Virtuosen bestand und sogar den eigenen musikalischen Nachwuchs ausgebildet hat.
Zur Person: Jörg Halubek ist Spezialist für Alte Musik als Dirigent, Cembalist und Organist und hat eine Professur für „Historische Tasteninstrumente“ an der Musikhochschule Stuttgart inne. Er studierte zunächst Kirchenmusik, Orgel und Cembalo in Stuttgart und Freiburg und spezialisierte sich danach an der Schola Cantorum Basiliensis bei Jesper Christensen und Andrea Marcon auf die historische Aufführungspraxis. Als Dirigent gilt Jörg Halubeks Interesse besonders der dramatischen Aktualität der alten Stoffe. Engagements führten ihn in den letzten Jahren u. a. an die Komische Oper Berlin, ans Nationaltheater Mannheim, zu den Händel-Festspielen in Halle und den Innsbrucker Festwochen für Alte Musik. Sein 2008 gegründetes Ensemble il Gusto Barocco besteht aus international führender Virtuos:innen der jüngeren Generation, die verbunden sind durch die Musiziertradition der Schola Cantorum Basiliensis.