Vom Sorgenkind zum Star! Klavierspielen ist schon mit zwei Händen nicht leicht. Aber nur die Linke zu benutzen, ist ein Kraftakt. Zumindest für rechtshändige Pianisten. In Maurice Ravels Klavierkonzert für die linke Hand aber spielt sie die Hauptrolle. Denn Ravel hat sie für den Wiener Pianisten Paul Wittgenstein komponiert. Das hat seinen Grund.
Vom Ende einer Karriere. Oder vom Anfang?
1913 debütiert Paul Wittgenstein, Sohn eines millionenschweren Wiener Stahlmagnaten und Bruder des großen Philosophen Ludwig Wittgenstein, im großen Musikvereinssaal in Wien. Keine acht Monate später wird er gleich zu Beginn des 1. Weltkriegs schwer verwundet. Sein rechter Arm muss amputiert werden. Ab jetzt vom Geld der schwerreichen Familie leben? Kein Selbstmitleid, heißt sein Motto. Und so trainiert er unverdrossen seine linke Hand und debütiert – drei Jahre nach dem ersten Debüt – wieder im Wiener Musikverein, diesmal mit nur einem Arm.
Musik für eine Legende
Sein Schicksal berührt. Das Publikum bewundert ihn dafür, wie unerschütterlich er seinen Weg geht. Paul Wittgenstein ist 29 und eine Legende. Das Problem: Was spielt man als Einhandvirtuose – außer den Etüden für die linke Hand, die es gibt? Wittgenstein plant etwas, das ihn unsterblich machen wird: Er nutzt das Geld der Familie und die glänzenden Kontakte zu Komponisten und bittet sie um Werke: Prokofjew, Richard Strauß, Britten, Ravel. Keiner sagt nein. Das Geld mag locken, aber ein solcher Auftrag ist auch reizvoll.
Ravel und die „brennenden Himmel“
Als Maurice Ravel 1929/30 ein Klavierkonzert in einem Satz für Paul Wittgenstein schreibt, interessiert ihn vor allem die kompositorische Herausforderung. Das Werk solle klingen, als spielten zwei Hände. Es wird ein hochvirtuoses und sehr emotionales Konzert, bei dem Ravel Eindrücke des 1. Weltkriegs verarbeitet. „Alles ist hier grandios, monumental, im Maßstab von brennenden Himmeln, monströsem Massensterben, wo die Leiber verbrennen und der Geist vernichtet wird“, sagt die mit ihm befreundete Pianistin Marguerite Long dazu.
„Interpreten sind Sklaven“
Wittgenstein ist musikalisch konservativ gesinnt, hätte vermutlich lieber Beethoven und Brahms gespielt als Ravel und Hindemith. Er wird eher unfreiwillig zu einem musikalischen Pionier. Und so nimmt er eigenhändig Veränderungen am Notentext vor, nach dem Motto: Interpreten seien ja keine Sklaven. Ravel tobt. Doch, das seien sie!, kontert er.
Der Pianist Kirill Gerstein hält sich mit Freude an Ravels Notentext, ohne dass ihm dabei ein Zacken aus der Krone bricht. Und den Jazz in Ravels Klavierkonzert liebt er besonders.
Kirill Gerstein
Gerstein, 1979 in Russland geboren, ist ein idealer Interpret für Ravels Klavierkonzert, denn er wandert zwischen Jazz und Klassik. Mit 12 Jahren lernt er den Jazz-Musiker Gary Burton kennen, der verhilft ihm als jüngstem Studenten der Geschichte mit 14 zu einem Jazzstudium am Berkeley College of Music in Boston. Später wendet er sich verstärkt dem klassischen Kanon zu. Unzählige Preise hat er bekommen, der bedeutendste war 2010 der mit 300.000 Dollar dotierte Gilmore Artist Award. Gerstein lebt in Berlin.