Musikstück der Woche

Eivind Aadland dirigiert Jean Sibelius: Tapiola, Sinfonische Dichtung für Orchester op. 112

Stand
Autor/in
Felix Werthschulte

„O Täler weit, o Höhen, o schöner, grüner Wald“, schwärmte Eichendorff. Doch ist es im Wald wirklich immer so schön? Beim Hören von Jean Sibelius' sinfonischer Dichtung kann man anderer Meinung sein.

Die epische Sinfonische Dichtung für Orchester aus dem Jahr 1926 ist in der Einspielung des SWR Symphonieorchesters unter Leitung von Eivind Aadland unser Musikstück der Woche.

Des Nordlands düstre Wälder

Tapio heißt in der finnischen Mythologie der Gott des Waldes. Nicht gerade einer, den man einen freundlichen, den Menschen zugewandten Zeitgenossen nennen konnte. Jedenfalls heißt es, dass ihm Opfer darbringen musste, wer im Wald Tiere erlegen und damit für sich und seine Familie sorgen wollte. Das erste Beutestück gehörte nicht dem*r Jäger*in, sondern ganz allein dem Gott.

Webende Waldgeister

Als der finnische Komponist Jean Sibelius im Jahr 1926 gebeten wurde, ein neues Orchesterwerk zu schreiben, wandte er sich genau diesem Gott Tapio zu. „Tapiola“ taufte er in Anlehnung an den Namen des Gottes seine Sinfonische Dichtung. Diese lässt sich allerdings kaum auf den überirdischen Hüter der finnischen Wälder beziehen.

So liegt eine konkrete Sage diesem Werk nicht zugrunde. Stattdessen formulierte Sibelius selbst in gleich mehreren Sprachen ein Gedicht, in dem er die Grundzüge seiner Komposition andeutete. Von „des Nordlands düstre[n] Wäldern“ ist da die Rede, von „wilden Träumen“, von „Waldgeistern“, die in der Dunkelheit „weben“.

Es ist keine schöne, idyllische Stimmung eines Menschen zugewandten Schöpfergottes oder eines Erwachens und Erblühens der Natur im Gehölz, die hier zum Leben erwacht. Düster und dunkel ist stattdessen die Stimmung von Anfang an. Das Sausen und Brausen der „Waldgeister“ wirkt besonders intensiv – durch eine vielfache Teilung der Streicherstimmen.

Mehr zu Sibelius' Sinfonischer Dichtung „Tapiola“ op. 112

Ein neuer Gott

Der Schöpfer ist in diesem Stück nicht mehr der mythische Gott der alten Zeit. Es ist der Komponist, der zum neuen Erschaffer eines (nun musikalischen) Waldes wird. Auch er schafft, bestimmt über Anfang und Ende des Waldes, über sein Entstehen und Vergehen. Dieser neue Wald, der im Konzertsaal erklingt und im Inneren der Hörer*innen durch Fantasie entsteht, macht einen realen Wald scheinbar überflüssig.

In technischen Fragen macht „Tapiola“ vor allem zwei Dinge besonders: Das Werk basiert zum einen auf einer Art melodischen Keimzelle – wie ein Baumsamen, aus dem buchstäblich ein ganzer Wald entsteht. Diese Keimzelle ertönt bereits am Anfang des Stücks, zunächst auf markante einstimmige Weise, und verbreitet und variiert sich im Verlauf immer mehr.

Zum anderen erweist sich Sibelius als ein geschickter Dramaturg: Die immer wieder aufwallenden Steigerungen, vor allem ein mehr als 40 Takte andauerndes, aufsteigendes Crescendo der Streicher, sorgen fast zielstrebig für Gänsehaut. Am Ende des Werks findet sich ein bewegtes „Moto Perpetuo“, dass es durch seine rhythmische Kraft zu gewisser Berühmtheit unter Sibelius-Freund*innen gebracht hat.

Uraufführung in New York

Die Sinfonische Dichtung entstand im Auftrag von Walter Damrosch. Der Deutsche leitete in den 1920er-Jahren die New York Symphony Society. Im Big Apple war Sibelius' Opus 112 dann auch zum ersten Mal im Konzertsaal zu hören. „Tapiola“ war der letzte große Wurf, ehe sich Jean Sibelius ab 1926 jahrzehntelang als Komponist zurückzog.

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Autor/in
Felix Werthschulte