Musikstück der Woche vom 31.10.2016

Kraftstrotzende Energie und gläserne Elfen

Stand
Autor/in
Doris Blaich

Bohuslav Martinu: Streichquartett Nr. 3

Musik aus der Vogelperspektive: Das 3. Streichquartett von Bohuslav Martinu, gespielt vom Bennewitz Quartett am 24.10.2012 in Schloss Waldthausen bei Mainz.

Bohuslav Martinu verbrachte seine Kindheit in einer winzigen Wohnung, die in einen Kirchturm eingebaut war. Sein Vater war Schuster in der böhmischen Kleinstadt Polička und verdiente sich ein Zubrot als Türmer: Er läutete die Glocken der Kirche und gab Alarmsignale bei Gefahren und Bränden. Die Turmwohnung lag 35 Meter hoch und war seine Dienstwohnung.

Leben im Leuchtturm

„So manches Mal habe ich darüber nachgedacht, welch großer Einfluss mein Turmleben auf meine musikalische Arbeit gehabt hat“, erinnert sich Martinu. „Da ich damals wie auf einem Leuchtturm vollständig von der übrigen Welt abgeschnitten war, bot mir allein die Möglichkeit genügend Kurzweile und Unterhaltung, die sich mir offenbarenden Bilder meinem Gedächtnis einzuprägen. Ich kenne auch die kleinsten Einzelheiten: auf der einen Seite die Aussicht auf den Weiher und auf das Bad, auf der anderen den Blick auf den Friedhof und die fernen Dörfer; im Norden nichts als Ebene, waldloses Land, und im Vordergrund die Stadt selbst – alles en miniature – mit Häuschen und Menschlein dazwischen, und hoch über allem der grenzenlose Raum. Ich glaube, dass sich dieser unendliche Raum als einer der stärksten Eindrücke meiner Kindheit zutiefst in meine Seele eingeprägt hat.“ Diese starken Eindrücke halfen ihm auch so manches Mal über das Heimweh hinweg, unter dem er am Ende seines Lebens litt, während der langen Jahre im amerikanischen Exil.

Polička – Prag – Paris!

Mit sieben Jahren erhielt Martinu den ersten Geigenunterricht – er übte mit Vorliebe auf dem Balkon der Turmwohnung –, mit elf versuchte er sich an ersten Kompositionen. Seit 1906 studierte er Geige am Prager Konservatorium, wurde aber schon bald wegen „unverbesserlicher Nachlässigkeit“ von der Hochschule ausgeschlossen. Kaum war er den Drill des Konservatoriums los, erlebte er einen Schaffensrausch: er komponierte Orchesterwerke, Lieder, Klavier- und Kammermusik.

Was ihm noch an Handwerkszeug fehlte, eignete er sich in privatem Kompositionsunterricht an. 1923 ging Martinu nach Paris, damals die musikalische Hauptstadt Europas. Hier wurde er Kompositionsschüler von Albert Roussel, lernte die Musik Igor Strawinskys und der „Groupe des Six“ kennen, experimentierte mit Elementen des Jazz, der Unterhaltungsmusik und übertrug die Techniken des Films – wie Schnitt und Montage – in seine Tonsprache. Daneben studierte er die Volksmusik seiner Heimat, deren tonale Vieldeutigkeit und rhythmischer Reichtum seine eigene Kompositionsweise prägten.

Zu Martinus 3. Streichquartett

In Martinus 3. Streichquartett finden sich all diese Einflüsse wieder. Martinu hat es 1929 in Paris komponiert und dabei mit großer Experimentierlust die klanglichen Möglichkeiten dieser Gattung erkundet: Flirrende Trillerketten, gezupfte und mit dem Bogenholz geschlagene (col legno) Töne und Flageoletts (Flötenartige Töne) sind da übereinander geschichtet, Glissandi und nervöse Tremoli. Die beiden Ecksätze leben von wilden Rhythmen und einer ungebändigten, pulsierenden Musizierlust. Melodiefetzen werden durch die Luft geschleudert, manchmal hämmern die Tonwiederholungen wie Morsezeichen, dann wieder hetzen die Läufe mit ungezügelter Energie durch den Raum. Im Mittelteil des Finales ist wie eine Intarsie eine walzerartige Passage eingeschoben, bei der die Bratsche die Melodie übernimmt und die beiden Geigen darüber tänzeln wie gläserne Elfen.

Der Mittelsatz entfaltet eine geheimnisvoll-dunkle Klanglandschaft. Die Melodien leben von der Nähe zur tschechischen Volksmusik, manchmal flackert einen Augenblick lang Pathos auf, dann schlägt der Tonfall schlagartig um ins Nüchterne. Immer wieder führt Martinu zwei oder mehrere Stimmen in Parallelen und schert sich dabei wenig um die Gesetze der klassischen Tonalität – wie überhaupt sein Umgang mit Gesetzen, Zeitströmungen und Moden eindrucksvoll selbstbewusst ist. Martinu ist niemals Ideologe und bleibt immer musikantisch – mit einem selbstbewussten Charme, der die Leichtigkeit der Vogelperspektive verrät.

Bennewitz Quartett

Das Bennewitz Quartett aus Prag verdankt seinem Namen dem Geiger Antonín Bennewitz (1833-1926), einer wegweisende Persönlichkeit der tschechischen Violinschule. 1998 wurde das Quartett gegründet. Erfahrungen und Anregungen erhielt es u.a. von Rainer Schmidt vom Hagen Quartett und Walter Levin vom La Salle Quartet. 2003 wurde das Bennewitz Quartett von der Spanischen Königin ausgezeichnet für seine herausragende Lehrtätigkeit an der Escuela Superior de Música Reina Sofía in Madrid. Ein Jahr später erhielt das Ensemble den Preis der Tschechischen Kammermusikgesellschaft. Siege bei zwei bedeutenden Wettbewerben – Osaka 2005 und Prémio Paolo Borciani in Italien 2008 – ebneten dem Quartett den Weg auf die internationalen Konzertbühnen.

Neben seinen internationalen Aktivitäten ist das Bennewitz Quartett auch vor allem mit der tschechischen Musikszene eng verbunden. Im Zentrum der Repertoireauswahl stehen tschechische Komponisten, die oft zu Unrecht wenig Beachtung erfahren, wie etwa Ladislav Dusík, Anton Rejcha, Pavel Haas, Viktor Ullmann und Erwin Schulhoff. Bei SWRmusic erschien eine Aufnahme mit Quartetten von Antonín Dvorák.

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Doris Blaich