"Das bin ich selbst"
Nur wenig Licht fällt durch die bunten Glasfenster in den Innenraum der italienischen Kirche. Hinter dem Altarraum führt eine schmale Steintreppe hinunter in die Krypta. Im Halbdunkel sind Denkmäler für die verstorbenen Kardinäle zu erkennen: Flache Steinplatten, auf denen die nachgebildeten Körper der Geistlichen liegen, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen. Eine Atmosphäre kühler Ruhe. Dieses Bild der Kardinaldenkmäler in Italien soll Gustav Mahler im Kopf gehabt haben, als er das Lied "Ich bin der Welt abhanden gekommen" schrieb; jedenfalls erzählt das später seine Frau Alma. Der tiefe Ernst und die konzentrierte Ausdruckskraft in der Musik lassen tatsächlich an gefaltete Hände und geschlossene Augen denken.
Die Verse, die Mahlers Vertonung zugrunde liegen, stammen von Friedrich Rückert, der auch die Gedichte der "Kindertotenlieder" verfasst hat. Gustav Mahler begann im Jahr 1901 an fünf "Rückert-Liedern" zu arbeiten, und zwar in seiner Sommervilla in Maiernigg am Wörthersee. Dort entwarf er zeitgleich auch seine fünfte Symphonie. "Nachdem Mahler schon seine heurige Ferienarbeit abgeschlossen hatte, um die letzten paar Tage der Erholung zu widmen, ergriff ihn doch die Komposition des letzten, gleich anfangs geplanten, aber zu Gunsten der Symphonie liegen gelassenen Rückertschen Gedichts: ’Ich bin der Welt abhanden gekommen’." So beschreibt es die österreichische Bratschistin und Musikpädagogin Natalie Bauer-Lechner. Mahler selber äußert sich kaum zu seinen Rückert-Liedern. Über das Lied "Ich bin der Welt abhanden gekommen" sagt er nur: "Es ist Empfindung bis in die Lippen hinauf, die sie aber nicht übertritt. Und: das bin ich selbst!"
"Das bin ich selbst." – Fühlte sich Mahler wirklich, als sei er "der Welt gestorben" und wählte deshalb ausgerechnet diesen Rückerttext? Und wie funktioniert das überhaupt, der Welt "abhanden kommen"? Indem man seine Versicherungen nicht mehr zahlt und umzieht, ohne sich umzumelden? Sicher nicht. Es geht im Rückert-Gedicht vielmehr darum, etwas nur für sich zu schaffen, sein eigenes "stilles Gebiet" zu finden, fern vom "Weltgetümmel".
SWR Vokalensemble Stuttgart
Die Geschichte des SWR Vokalensembles Stuttgart spiegelt in einzigartiger Weise die Kompositionsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wieder. Auf Beschluss der Alliierten und im Zuge von Demokratisierungsmaßnahmen wurden 1946 Rundfunkanstalten und Ensembles gegründet, darunter auch der damalige Südfunkchor. Ihm kam die Aufgabe zu, das Schallarchiv mit Musik aller Arten und für jegliche Anlässe zu versorgen. Mit dem Dirigenten Hermann Joseph Dahmen, der den Chor von 1951 bis 1975 leitete, begann die Zeit der allmählichen Spezialisierung auf Neue Musik. Von 1953 an vergab der Chor regelmäßig Kompositionsaufträge.
Zu internationaler Reputation als Ensemble für Neue Musik gelangte das SWR Vokalensemble mit seinen späteren Chefdirigenten Marinus Voorberg, Klaus-Martin Ziegler und mit Rupert Huber. Schon Voorberg, insbesondere aber Huber formte den typischen Klang des SWR Vokalensembles, geprägt von schlanker, gerader Stimmgebung. Viele der mehr als 200 Uraufführungen, die in der Chronik des SWR Vokalensembles verzeichnet sind, hat er dirigiert. Auf diesem Niveau konnte Marcus Creed aufbauen, als er 2003 die Position des Chefdirigenten übernahm. Dem Ensemble ging zu diesem Zeitpunkt bei Fachpresse und Publikum längst der Ruf voraus, in konstruktiver Offenheit mit den Schwierigkeiten zeitgenössischer Partituren umzugehen.
In seinen ersten Stuttgarter Jahren legte Creed, der als einer der profiliertesten Dirigenten internationaler Profichöre gilt, seine Arbeitsschwerpunkte deshalb auf das Vokalwerk von György Ligeti, Luigi Dallapiccola und Luigi Nono. Darüber hinaus setzte er die Reihe der Uraufführungen fort. Intensiviert wurde vor allem die Zusammenarbeit mit Georges Aperghis, Heinz Holliger und György Kurtág. Die Studioproduktion des SWR Vokalensembles Stuttgart erscheinen zu einem großen Teil auf CD und werden regelmäßig mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Preis der Deutschen Schallplattenkritik, der Grand Prix du Disque und der Midem Classical Award.