Musikstück der Woche vom 24.10.2016

Claude Debussy: Estampes für Klavier, L 100

Stand
Autor/in
Katharina Höhne

Die Wege von Claude Debussy führten selten aus Paris hinaus, denn in den engen Gassen und verwinkelten Cafés der Stadt war die Welt längst Zuhause. Und weil es dem französischen Komponisten oft an finanziellen Rücklagen fehlte, beschloss er: "Wenn man sich Reisen nicht leisten kann, muss man sie durch Phantasie ersetzen".

Inspiriert von den Menschen, die täglich seine Wege kreuzten, und der eigenen Sehnsucht in die fernen Fremde, schrieb er "Estampes", zu Deutsch "Briefmarken", drei Stücke für Klavier solo. Der deutsche Pianist Benyamin Nuss hat den impressionistischen Ausflug nach Indonesien, Spanien und Frankreich im Februar 2014 im Schloss Waldthausen in Budenheim auf die Bühne gebracht.

Der eigenen Identität ganz nah

Von wegen Männer können nicht Multitasking! Claude Debussy war ein Meister darin. Zeit seines Lebens empfand er es als befruchtend und befreiend zugleich nicht nur an einem Stück zu arbeiten, sondern über mehrere gleichzeitig nachzudenken. Denn wenn es an der einen Stelle hakte, hatte er mindestens drei oder vier andere kompositorische Vorhaben auf dem Schreibtisch liegen, denen er sich dann alternativ widmen konnte.

Die "Estampes" entstanden, als Debussy eigentlich an seinen drei berühmten sinfonischen Skizzen "La Mer" saß. Er veröffentlichte sie noch ein Jahr vor dem großen Meisterwerk am 9. Januar 1904 in Paris. Die Uraufführung fand im Rahmen eines Konzertes der Société nationale de la musique statt – einer losen Künstlervereinigung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, junge französische Musiker und Komponisten samt ihrer Ideen auf die Bühne zu bringen und damit die französische Musik ins Bewusstsein des Pariser Publikums zurückzurufen. Denn ausgehend von der Tatsache, dass sich die Stadt mit den Jahren zu einer pulsierenden Weltmetropole entwickelt hatte, war der Fokus für die eigene Identität verloren gegangen.

Nicht immer stufte die Öffentlichkeit die Veranstaltungen der Société als 'wertvoll' ein, auch mit Debussys zunehmender impressionistischer Klangmalerei konnte sie wenig anfangen. Erst mit der Zeit verwandelte sich die allgemeine Skepsis in Wohlgefallen, vor allem, wenn die 'eigenen' Künstler anfingen sich wie Debussy für die Kulturen anderer Länder in ihrer Musik zu öffnen. 

Sehnsucht nach der fernen Fremde

Spätestens seit der Weltausstellung 1889 fand die allgemeine Sehnsucht nach der unbekannten aber reizvollen Fremde in den Menschen kein Halten. Auch Debussy zog alles was mit dem Etikett "exotisch" versehen war magnetisch an. Seit er als Kind das erste Mal das Meer gesehen hatte, holte ihn in regelmäßigen Abständen die Melancholie ein. Nirgendwo sonst empfand er das Gefühl frei zu sein und die Welt zu entdecken stärker als auf die tobenden Wellen blickend. Während er seinen  Kindheitserinnerungen mit "La Mer" ein Andenken schrieb, in denen er nicht das Meer selbst nachmalte sondern ganz im Geiste des Impressionismus seinen persönlichen Eindruck davon, träumte er sich mit "Estampes" weit weg. 

Mit drei Briefmarken um die Welt

Im ersten Stück, "Pagodes", geht es auf die indonesische Insel Java. Inspiriert von der Weltausstellung, auf der Debussy erstmals das dort beheimatete Gamelanorchester kennenlernte, ließ er die damals in Europa noch nie gehörten Klänge direkt in seine Musik einfließen und verewigte gleichzeitig die namensgebenden Pagodes darin: Impressionistisch eingekleidete auf- und absteigende Melodien lassen die beeindruckenden asiatischen Tempelbauten mit ihren vielen kleinen Türmen und Dächern vor dem inneren Auge sichtbar werden.

Das zweite Stück, "Soirée dans Grenade", erzählt von einem Abend in Granada, der berühmten Stadt an der spanischen Mittelmeerküste. Zwischen klangstarken Farbtupfern spielen in der Ferne Gitarren, klappern Kastagnetten und knistert das temperamentvolle Feuer der Habanera, dem beliebtesten Tanz Südspaniens. Im dritten Stück kehrt Debussy nach Frankreich, in den Bois de Boulonge, einem Park im Westen von Paris, zurück. "Jardin de la Pluie" malt einen verregneten Sommernachmittag nach, mit perlend tropfendem Regen und leichtem Gewitter.   

Benyamin Nuss (Pianist)

Schon mit zehn Jahren war Benyamin Nuss fasziniert von der Musik Claude Debussys. Während er Stücke aus dessen "Children‘s Corner" spielte hörte er sich immer mehr in die Klangfarben und Harmonien des Impressionismus hinein, bis er die Romantik für sich entdeckte und in Sergej Rachmaninow, Franz Liszt und Frederic Chopin seine heutigen Lieblingskomponisten fand. 

1989 in Bergisch-Gladbach geboren, fing Benyamin Nuss mit sechs Jahren an Klavier zu spielen. Umgeben von einem Vater, der als professioneller Posaunist arbeitet und einem Onkel, der als Pianist durch die Welt reist, wuchs er nicht nur in einer musikalischen Familie auf sondern wurde bereits früh sowohl mit der klassischen Musik als auch Jazzmusik vertraut gemacht. Es folgten Preise bei (inter-)nationalen Wettbewerb wie "Jugend Musiziert" oder dem "Prix d’amadeo de piano" (2006) bevor er 2008 als Student an die Musikhochschule Köln ging. 

Benyamin Nuss lebt seine Leidenschaft zur Musik – von Köln bis Tokio saß er bereits auf den Bühnen großer Konzerthäuser wie der Berliner Philharmonie, spielte als Solist mit renommierten Orchestern wie dem London Symphony Orchestra oder tourte mit diversen Jazzbands durch die Welt. Seit 2010 ist er exklusiv bei dem renommierten Label Deutsche Grammophon unter Vertrag. Sein Debütalbum „Nuss plays Uematsu“, die Videospielmusik in einen klassischen Kontext setzt, schaffte es direkt in die Charts und lockte etwa 10 000 Leuten z.T. erstmals in den Konzertsaal.

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Katharina Höhne