Nicht für Chor, sondern nur für Frau Richter
Eigentlich ist es ganz folgerichtig, dass sich der schlesische Chorspezialist und Musikwissenschaftler Clytus Gottwald die "Lieder eines fahrenden Gesellen" von Gustav Mahler vornahm, um sie für Chor a cappella zu setzen. Die Lieder – komponiert für Singstimme mit Orchester bzw. Klavier – entstanden in einer Zeit, als Mahler selbst Chorleiter in Kassel war und damit dem Chorgesang täglich verbunden war. Wäre da nicht auch die Sopranistin Johanna Richter gewesen, dann hätte Mahler seinen ersten Liederzyklus womöglich selbst in einer Chorversion vorgelegt... Johanna Richter war Mahlers – zeitweilige – große Liebe; sie erwiderte seine Gefühle zwar nicht, aber das hielt den jungen Komponisten nicht davon ab, seiner Angebeteten diese vier Gesellenlieder zu schreiben – zwischen 1884 und 1885 sind sie entstanden.
Wunderhorn und Winterreise
Die Texte der Lieder hat Mahler aus der Liedersammlung "Des Knaben Wunderhorn" zusammengestückelt. Sie schildern Gedanken und Gefühle eines Gesellen, der wandernd versucht, eine unglückliche Liebe zu verarbeiten. Parallelen zu Franz Schuberts "Winterreise" und "Schöner Müllerin" sind nicht nur offensichtlich, sondern sicher von Mahler auch erwünscht. Der Lindenbaum 'rauscht' allzu vernehmbar in der 3. Strophe des letzten Liedes durch, ein Rauschen, das bis in die 1. Sinfonie hörbar ist, die wenig später entstehen sollte.
Das letzte Lied, "Die zwei blauen Augen", changiert typisch mahlerisch-bittersüß zwischen den Tonarten: Zunächst in e-Moll stehend, wendet es sich im zweiten Teil nach F-Dur, endet aber in f-Moll – musikalisch passgenau auf die romantischen Brechungen zwischen leiderfüllte Realität und Traumwelt komponiert.
Es handelt sich bei der Transkription keinesfalls um eine Nebenform zu einem Original, sondern um eine selbstständige Form, um eine Reflexion auf das Original. Die Stücke sind in der Transkription ja nicht mehr dieselben. Es ist ja nicht so, dass man den Werken bei der Transkriptionsarbeit bildlich gesprochen, ein anderes Kleid anzieht, man muss schon ein wenig in die Faktur eingreifen. Wenn man beispielsweise das "Adagietto" aus der fünften Sinfonie von Mahler nimmt, dann kann man das nicht wortwörtlich übertragen, weil das instrumental gedacht ist, also muss man nach einer anderen "Écriture" suchen, wobei die Harmonik und die Melodieführung allerdings nicht verändert werden dürfen. Dennoch handelt es sich bei einer Transkription um etwas völlig Neues, um ein Kunstprodukt, das ästhetisch autonom ist.
Die zwei blauen Augen
Nach Texten aus "Des Knaben Wunderhorn"
Die zwei blauen Augen von meinem Schatz,
Die haben mich in die weite Welt geschickt.
Da musst ich Abschied nehmen vom allerliebsten Platz!
O Augen blau, warum habt ihr mich angeblickt?
Nun hab' ich ewig Leid und Grämen.
Ich bin ausgegangen in stiller Nacht
Wohl über die dunkle Heide.
Hat mir niemand Ade gesagt.
Ade! Mein Gesell' war Lieb' und Leide!
Auf der Straße stand ein Lindenbaum,
Da hab' ich zum ersten Mal im Schlaf geruht!
Unter dem Lindenbaum,
Der hat seine Blüten über mich geschneit,
Doch wusst ich nicht, wie das Leben tut,
War alles, alles wieder gut!
Alles! Alles, Lieb und Leid
Und Welt und Traum!
SWR Vokalensemble Stuttgart
Seit vielen Jahren zählt der Rundfunkchor des SWR zu den internationalen Spitzenensembles unter den Profichören und hat im Lauf seiner 70-jährigen Geschichte mehr Uraufführungen gesungen als jeder andere Chor, viele davon unter Leitung von Rupert Huber, der von 1990 bis 2000 Chefdirigent des Ensembles war. Neben der Neuen Musik widmet sich das SWR Vokalensemble vor allem den anspruchsvollen Chorwerken älterer Epochen – insbesondere der Romantik und der klassischen Moderne. Seit 2003 ist Marcus Creed künstlerischer Leiter des SWR Vokalensembles Stuttgart. Unter seiner Leitung wurde das Ensemble für seine kammermusikalische Interpretationskultur und seine stilsicheren Interpretationen vielfach ausgezeichnet, unter anderem dreimal mit dem Echo Klassik und viele Male mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Zuletzt im August 2016 für seine Aufnahme von Martin Smolkas "Poema de balcones".