Ein musikalischer Tausendsassa am Puls seiner Zeit
1739 veröffentlichte der Hamburger Musikgelehrte Johann Mattheson eines der berühmtesten Musiktraktate seines Jahrhunderts: "Der vollkommene Capellmeister. Das ist gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können und vollkommen inne haben muss, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will". Der Job hatte es in sich, denn ein solcher Kapellmeister musste sich nicht nur mit Gesang und sämtlichen Orchesterinstrumenten auskennen, mit Tonarten, Harmonik und Melodie vertraut sein, klangvolle Fugen und Kontrapunkt setzen können. Er trug auch die Verantwortung für das praktische Musikleben am Hof seines Dienstherrn mit allen möglichen Kirchen- und Unterhaltungsmusiken, von der Komposition bis zur Aufführung.
Ein klarer Fall für einen musikalischen Tausendsassa wie Johann Melchior Molter also. Im thüringischen Tiefenstadt geboren, verbrachte Molter die längste Zeit seines Lebens in Diensten des Markgrafen Carl-Wilhelm von Baden-Durlach in Karlsruhe. Auf die umfangreichen Aufgaben als Hofkapellmeister war er bestens vorbereitet: Wie Bach hatte Molter seine musikalische Ausbildung in Eisenach bekommen, Geige gelernt, war nach Italien gereist und wusste sogar, wie man französisch klingende Musik komponiert. Er schrieb rund 170 Sinfonien, zahlreiche Solokonzerte und blieb dabei immer am Puls seiner Zeit. Als einer der ersten in Deutschland komponierte Molter ein Cellokonzert, und kaum war die Klarinette erfunden, dachte er sich das erste Solokonzert für das brandneue Instrument aus.
Musik, die atmet
Molters Concertino klingt nicht gerade nach einem "enfant terrible" der Barockmusik. Vielmehr nach einem Komponisten, der sein Handwerk durch und durch verstand, ohne damit großspurig im Konzert angeben zu müssen. Das Konzertstück in B-Dur führt dies in zwei Sätzen voller Luftigkeit vor: durch und durch transparent gestaltete Musik für drei Streicher und ein Tasteninstrument, deren Anmut in graziler Leichtigkeit erblüht.
Verzierungen kommen hier stets wohldosiert zum Einsatz, harmonische Kühnheiten bleiben eine Rarität, und die Rollen der Instrumente sind klar verteilt. Ein gleichmäßiger Puls trägt die eleganten Wendungen in den Geigen, welchen kurze, sprudelnde Soli am Cembalo gegenüberstehen. Zugleich bilden Cello und Cembalo über weite Strecken hinweg das solide musikalische Fundament für völlig unbeschwert dazu tänzelnde Melodien – hier und dort mit perlenden Läufen, dann wieder als Miniaturgesten von großer Zartheit, die sich subtil an die zupackenderen Passagen schmiegen. So entfaltet sich im Concertino ein Ton, der in seiner unaufgeregten Schlichtheit den Blick frei macht für die feinen Nuancen der vier Instrumente. Pure, atmende Musik, ganz einfach.
Kristian Nyquist (Cembalo)
Kristian Nyquist ist ein Tastenwanderer durch die Welten: In Los Angeles geboren, wuchs er in Deutschland auf, studierte Cembalo bei Christine Daxelhofer in Karlsruhe und dann bei Huguette Dreyfus in Paris. Als Solist und in verschiedenen kammermusikalischen Formationen bringt er Musik vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart zum Klingen.
So gestaltete Kristian Nyquist Uraufführungen mit Musik von Komponisten wie Violeta Dinescu, John Patrick Thomas, Roderik de Man, Hans Werner Henze oder Sidney Corbett. Zugleich unterrichtet Kristian Nyquist heute – nach vielen Jahren als Dozent der Musikhochschule Mannheim – Cembalo, Fortepiano, Generalbassspiel und Kammermusik an der Hochschule für Musik in Karlsruhe. Ausgezeichnet wurde er beim Concours Musical d’Île-de-France, beim Prager Frühling und zuletzt 2013 gemeinsam mit Ingo Goritzki und Sergio Azzolini mit dem ECHO Klassik für die Einspielung der Oboen- und Fagottsonaten von François Devienne.
Gottesauer Ensemble
Das Gottesauer Ensemble formierte sich in Karlsruhe und steht unter der Leitung des Cellisten Dmitri Dichtiar, der sich intensiv mit oft so bezeichneter "alter Musik" verschiedener Epochen beschäftigt. Kein Zufall also, dass auch die musikalischen Programme des Gottesauer Ensembles der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben sind.
In wechselnder Besetzung bringt das Musiker-Kollektiv immer wieder Musik zu Gehör, die in der Gegenwart nur noch selten gespielt wird. Das jüngste Wiederhören gibt es nun sogar als CD: Im Jahr 2015 produzierte das Gottesauer Ensemble bei dem Label Musicaphon eine Aufnahme mit sechs Concerti von Johann Melchior Molter. Der Anlass für diese Einspielung war Molters 250. Todestag.