Musikstück der Woche vom 29.2.2016

Heitor Villa-Lobos: Bachianas Brasileiras Nr. 9

Stand
Autor/in
Doris Blaich

Mit offenen Ohren durch die Welt gehen und aufsammeln, was man so findet – das ist die Devise von Heitor Villa-Lobos. In seinen Bachianas Brasileiras verbindet er diese Sammellust mit der Musik von Johann Sebastian Bach. Die neunte und letzte "Bachiana" ist unser Musikstück der Woche: eine Studioproduktion mit dem SWR Vokalensemble Stuttgart und seinem Chefdirigenten Marcus Creed.

Villa-Lobos, der Finder-Glückliche

Villa-Lobos findet eigentlich überall etwas, das sich als Rohstoff für seine Musik eignet: Im Urwald von Brasilien, in den Tänzen seiner Heimatstadt Rio de Janeiro, aber auch in der europäischen und russischen Musik. Mit großer Phantasie verwandelt er seine Fundstücke in eine ganz eigene Musiksprache, die so bunt und schillernd ist wie ein Kolibri.

Villa Lobos, der self-made-musician

Ein paar Grundlagen fürs Komponieren liest sich Villa-Lobos aus Büchern an, alles andere probiert er lieber selbst aus. Sein Vater, ein musikbegeisterter Bibliothekar, spielt gut Cello und bringt dem Sohn das wichtigste bei, um mit Freunden Straßenmusik zu machen. Da zupfen dann noch ein paar Gitarren und Mandolinen mit, Klarinetten und Flöten, und wer gerade sonst noch ein Instrument zur Hand hat – wer keines hat, der schwingt dazu die Hüften.

Villa-Lobos und der Chor

1923 verlässt Villa-Lobos seine Heimat und geht nach Paris. Als er sieben Jahre später wieder zurückkehrt, beauftragt ihn der brasilianische Präsident Getúlio Vargas mit dem Aufbau eines nationalen Musikerziehungswesens. In den Mittelpunkt seines Konzeptes stellt Villa-Lobos den Chorgesang und er bildet hunderte junger Musiklehrer zu Chorleitern aus. Regelmäßig leitet er an nationalen Feiertagen auch selbst immer größere Kinderchöre. An einer Massenveranstaltung 1931 in Sao Paulo nehmen 12.000 Sänger teil, später treten bis zu 40.000 Kinder in Fußballstadien zum Chorgesang an. Diese Gigantomanie im Dienste der Politik trägt Villa-Lobos zunehmend Kritik ein und er selbst scheint erleichtert, als er sich nach Vargas' Sturz 1945 von seinen Pflichten befreit sieht. Aber immerhin sammelt er so wertvolle Erfahrungen mit dem Chorgesang. Sie fließen später ein in sein kompositorisches Schaffen.

Villa-Lobos und Bach

Die Musik von Johann Sebastian Bach ist für Villa-Lobos "Die Quelle aller Musikschöpfung". Neun "Bachianas Brasileiras" widmet er seinem Vorbild; komponiert zwischen 1930 und 1945 – seine erfolgreichsten und bekanntesten Werke. Die Bachiana Brasileira Nr. 9 ist Abschluss und Höhepunkt der Serie. Villa-Lobos schreibt sie zunächst für sechsstimmigen Chor, später bearbeitet er die Musik für Streichorchester.

Die Neunte

Als Kind hört Villa-Lobos seine Tante regelmäßig die Präludien und Fugen aus Bachs "Wohltemperierten Klavier" spielen. Seine Bachiana Brasileira greift diese Struktur auf: zuerst ein Präludium, dessen polytonale Tonsprache eine seltsam schwebende Stimmung erzeugt – "vagaroso e mistico" lautet die Satzüberschrift: unbeständig und mystisch. Dann eine komplexe sechsstimmige Fuge. Sie greift das Thema des Präludiums auf und führt es aus, in höchster kontrapunktischer Kunstfertigkeit. Im Gegensatz zu den ersten acht Bachianas, in denen brasilianische und Bach’sche Musik eher gegenübergestellt als verschmolzen werden, gelingt Villa-Lobos hier eine eindrucksvolle Verbindung von barocker Kontrapunktik und den Rhythmen Brasiliens.

SWR Vokalensemble Stuttgart

SWR Vokalensemble
SWR Vokalensemble

Seit vielen Jahren zählt der Rundfunkchor des SWR zu den internationalen Spitzenensembles unter den Profichören und hat im Lauf seiner 70-jährigen Geschichte mehr Uraufführungen gesungen als jeder andere Chor, viele davon unter Leitung von Rupert Huber, der von 1990 bis 2000 Chefdirigent des Ensembles war. Neben der Neuen Musik widmet sich das SWR Vokalensemble vor allem den anspruchsvollen Chorwerken älterer Epochen – insbesondere der Romantik und der klassischen Moderne. Seit 2003 ist Marcus Creed künstlerischer Leiter des SWR Vokalensembles Stuttgart. Unter seiner Leitung wurde das Ensemble für seine kammermusikalische Interpretationskultur und seine stilsicheren Interpretationen vielfach ausgezeichnet, unter anderem dreimal mit dem Echo Klassik und viele Male mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Auch die Aufnahme der Bachiana Brasileira Nr. 9 ist preisgekrönt: Sie erschien mit weiteren Vokalwerken von Villa-Lobos bei swr music auf CD und erhielt 2011 als "Chor-Einspielung des Jahres" den Echo-Klassikpreis.

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Autor/in
Doris Blaich