Verschollen geglaubte Partitur
Diese CD-Neuheit, die ich mitgebracht habe, gilt Gounod und wurde vom Palazzetto Bru Zane koproduziert. Es handelt sich um die Ersteinspielung eines verschollen geglaubten Stücks. Bekanntlich hat Charles Gounod nicht nur 12 Opern, eine Fülle von Liedern, Symphonien, Streichquartetten, Klavier- und Kammermusiken hinterlassen; er komponierte, als zutiefst gläubiger Katholik, in seinen letzten Lebensjahren fast nur noch Kirchenmusik. Das Oratorium „Saint Francois d’Assise“ vollendete er im Januar 1891. Uraufgeführt wurde es am 27. und 28. März 1891 von der Societé des Concerts du Conservatoire in Paris. Danach verschwand die Partitur. Sie fand sich nicht in Gounods Nachlass. Man wusste zwar, dass es das Stück gibt, aber niemand wusste, wo es war. Manche nannten es feierlich „Gounods Testament“. Es soll aber auch etliche Musikwissenschaftler gegeben haben, die Jahre später behaupteten, diesen „Heiligen Franz“ habe es nie gegeben.
1996 tauchte er plötzlich wieder auf, vielmehr: die Dirigierpartitur der Uraufführung. Sie war treulich verwahrt worden in der Bibliothek der Congrégation der „Sœurs de la Charité de Saint Louis“, und die Schwestern hüten sie heute noch. Abschriften wurden gemacht, Aufführungsmaterial wurde erstellt, Stimmen. In Zusammenarbeit mit dem Festival d’Auvers-sur-Oise hat Palazzetto Bru Zane am 22.Juni 2016 den „Saint Francois d’assise“ von Charles Gounod wieder aufgeführt, in Paris. Und in Zusammenarbeit mit dem Label naïve wurde es für CD aufgenommen, mit dem Chor Accentus und seiner Dirigentin Laurence Equilbey, dem Orchestre de Chambre de Paris sowie Stanislas de Barbeyrac, als Saint-Francois. Der erste Teil des Oratoriums „La Cellule“ erzählt vom Ringen des Heiligen Franz um Wahrheit: ein Monolog in seiner Klosterzelle, ein Gebet. Einerseits liturgisch inspiriert, andererseits eine Preghiera wie aus Grand Opéra, linear, inbrünstig und leuchtend. Eine göttliche Tenorpartie, gesungen von Stanislas de Barbeyrac.
Ein Coup de théâtre ist der Augenblick, als dem Betenden der heilige Christ persönlich erscheint. Im zweiten Akt verabschiedet sich Franz von Assisi dann von seinen Freunden, er stirbt. „La Mort“ heißt diese Szene, schlicht und ergreifend. Und das letzte Wort haben die Engel. Sie laden Francois d’Assise ein, für alle Ewigkeit einzustimmen in den Chor der himmlischen Heerscharen: „Viens chanter pour toujours le céléste cantique!“ auf dieser CD gesungen vom Chor Accentus. So endet die Geschichte von „Saint Francois d’Assise“: im Himmel.
Da die Mysterien der menschlichen Seele für Gounod wie ein offenes Buch sind, linear zu lesen in einer Art höherer Naivität, ist sein Oratorium außerordentlich kurz. Ergänzt wird es auf diesem Album, das beim Label Naïve im Vertrieb von Indigo herauskam, von zweierlei französischem Cäcilien-Lob: der „Hymne à Sainte Cécile“ von Gounod und der „Légende“ de Sainte Cécile“ von Franz Liszt. Einzige Gemeinsamkeit: Beide Komponisten waren, jedenfalls für eine Strecke ihres Lebens, auch Priester, beide nannten sich zeitweise: Abbé.
CD-Tipp vom 27.04.2018 aus der Sendung SWR2 Treffpunkt Klassik - Neue CDs