SWR2 Weihnachtslieder

Es kommt ein Schiff, geladen

Stand
Autor/in
Doris Blaich
Künstler/in
Dietrich Henschel

Ein sehr altes Adventslied ist "Es kommt ein Schiff, geladen". Der Verfasser des Textes ist möglicherweise einer der großen mittelalterlichen Mystiker.

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Göttliches und Menschliches kommen zusammen

Ein Schiff bringt Gottes Sohn in die Welt. Kein gewöhnliches Schiff, das von Ruderern angetrieben und von einem Steuermann gelenkt würde, sondern ein ganz besonderes. Es scheint von alleine zu fahren, aus eigener Kraft. Und es besteht auch nicht aus materiellem Baustoff: "das Segel ist die Liebe, der Heilig Geist der Mast."

Das Schiff ist ein uraltes Symbol: es steht für die Reise, für den Übergang. Aber auch für Gruppen von Menschen, die ein gemeinsames Ziel haben: sei es ein Staat oder eine religiöse Gemeinschaft. Die meisten Kirchenbauten haben ein Kirchen-Schiff - oder auch mehrere Haupt-, Seiten- und Querschiffe, die mit ihrer Höhe eine Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellen. Die frühesten christlichen Abbildungen von Schiffen findet man auf Grabmälern: dort ist das Schiff ein Sinnbild für die symbolische Lebensfahrt des Verstorbenen zum Hafen der Ewigkeit.

Das Schiff verbindet zwei Welten miteinander, die Gegensätze sind vereinigt. Genau diese Idee steckt auch in unserem Adventslied. Mit dem Schiff kommen das Göttliche und das Menschliche zusammen, das Sterbliche und das, was ewig lebendig bleibt und sich immer wieder erneuert.

Der Verfasser - ein mittelalterlicher Mystiker?

Wer den Text von "Es kommt ein Schiff geladen" gedichtet hat, lässt sich nicht genau sagen. Und auch die Urfassung des Textes kann man nicht rekonstruieren; vielleicht waren es ursprünglich einmal drei Strophen, vielleicht auch mehr, heute werden jedenfalls meistens sechs Strophen in den Liederbüchern abgedruckt. Möglicherweise ist der Text von dem Dominikanermönch Johannes Tauler. Das behauptet zumindest das älteste Gesangbuch, das dieses Lied enthält; 1626 ist es in Straßburg im Druck erschienen. Da war der Text schon rund 300 Jahre alt.

Tauler gehört neben Meister Eckart und Heinrich Seuse zu den großen mittelalterlichen Mystikern. Er hat eine Fülle von deutschsprachigen Predigten hinterlassen, in denen er immer wieder die Quintessenz der Mystik formuliert: Jeder Mensch hat einen göttlichen Kern, den er bereits in diesem Leben (und nicht erst im Jenseits) erfahren kann.

Das Problem ist nur: die meisten Menschen spüren das nicht! Deshalb ist es ihre Aufgabe, sich diesem göttlichen Kern zuzuwenden und ihn zu erleben – das gelingt laut Tauler am besten in Stille und Einkehr und mit verschiedenen spirituellen Übungen. Wer sein eigenes göttliches Wesen einmal klar erkannt hat, wird von Lebensfreude und Gelassenheit erfüllt. Auch und gerade dann, wenn er seine ganz normalen Alltagsarbeiten verrichtet.

Das klingt alles sehr nach buddhistischer Lebensweisheit; tatsächlich teilt die christliche Tradition diese Auffassung mit der buddhistischen Tradition; und auch in den anderen Weltreligionen ist sie präsent.

Loslassen, um innerlich frei zu werden

Die Geburt des Kindes in Bethlehem ist in diesem Lied das Sinnbild für die innere Geburt des Menschen, dessen, der erkannt hat, dass Gott nicht außerhalb von ihm wohnt, sondern in ihm selbst und in allem Lebendigen steckt.

Das Kind macht uns hier auch noch etwas anderes vor: das berühmte "Loslassen", nicht an irgendwelchen Dingen im Leben verkrampft festzuhalten, sich freizumachen von Meinungen, Vorurteilen, Rechthabereien oder auch Besitztümern. Selbst dann, wenn man sie mit der Zeit sehr liebgewonnen hat. Das ist gemeint mit der Zeile: "(ein Kindelein) gibt sich für uns verloren".

Dieses Loslassen ist außerordentlich schwierig. Aber – so sagt es die mystische Tradition – es ist die einzige Möglichkeit, um innerlich frei zu werden. Vor der Erfahrung der Freude gibt es also erst einmal eine Reihe von Strapazen. Das Lied formuliert es so:

Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will,
muss vorher mit ihm leiden groß Pein und Marter viel.

Danach mit ihm auch sterben und geistlich auferstehn,
Ewigs Leben zu erben, wie an ihm ist geschehn.

Die Bereitschaft, die eigenen Beschränkungen, Erwartungen, Gewohnheiten und Muster abzulegen – das ist hier gemeint mit dem Bild des Sterbens. Wem das gelingt, der kann "geistlich aufersteh'n". Geburt und Tod gehören also in diesem Lied untrennbar zusammen, ihre Gegensätze sind überwunden.

Stand
Autor/in
Doris Blaich
Künstler/in
Dietrich Henschel