Donaueschinger Musiktage | Werke des Jahres 2021

Johannes Kreidler: 20:21 Rhythms of History

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Werkkommentar von Johannes Kreidler

Die Filmmontage ist bekanntlich durch Sergej Eisenstein zu künstlerischer Reife gelangt. Und eine Einstellung, wie Rainer Werner Fassbinder sagt, ist im Doppelsinn nicht nur der eingestellte Winkel der Kameraperspektive, es zeigt sich darin auch die Einstellung – also Haltung – des Autors. Ein Aneinanderfügen, ein In-Beziehung-Setzen solcher Einstellungen, sie sozusagen unter Zeitdruck setzen, erzeugt dann eine komplexe Aussage.

In der Musik ist man die Einheit der Performance gewohnt. Eine Melodie kann man zerschneiden, aber schwerlich ein Cello und nicht seinen Spieler, nicht die Gegenwart. Performance kann gar nicht heterogen sein; bei dieser Praxis im Hier und Jetzt gibt es keine Plötzlichkeit, alles hat sein organisches Ausholen, Luftholen; es gibt nur die eigene Zeit. Film dagegen braucht keinen Auftakt, Montage ist die Kunst der Auftaktlosigkeit, der Schocks. Film, das ist ein eng begrenzter Rahmen, der nichts verrät vom Drumherum, und zeitlich folgen Einstellungswechsel unvermittelt aufeinander, zwischen denen tatsächlich Stunden, Wochen, ein Jahrhundert gelegen haben können. Ihre Reihenfolgen sind womöglich vertauscht, der Zeitcursor springt andauernd, zurück und "über Gräber vorwärts". Im Unterschied zu den Rhythmen eines live gespielten Cellos ist bei den Rhythmen, die einer Celloaufnahme durch Schnitte beigebracht werden, das Kontinuum der Zeit verloren, ersetzt durch künstliche Anordnung oder vielleicht erst durch Ordnung oder Zeit überhaupt. Film ist Zeitmedium im doppelten Sinne: Er überliefert vergangene Zeit in einem eigenen Zeitablauf. "Die dem kinematographischen Bild eigene anormale Bewegung befreit die Zeit von jeder Verkettung, sie erlaubt eine direkte Präsentation der Zeit, indem sie das Unterordnungsverhältnis, das diese an die normale Bewegung bindet, umkehrt; ‚Der Film ist die einzige Erfahrung, in der mir Zeit als Wahrnehmung gegeben ist.' (Gilles Deleuze)" Und dem gilt im Verbund mit Musik mein Interesse.

Musik filmisch komponieren, Noten inszenieren, Schallwellenvisualisierungen platzieren, damit kann ich Einstellungen zur Musik überhaupt artikulieren, sie rahmen, ästhetisch kommentieren und Symbole formen. Ohnehin verstehe ich das Komponieren von Musik schon lange als dem Filmen ähnlich, will sagen: Immer befindet sich bereits etwas vor der Linse,es gibt kein blankes Notenblatt, man schließt Vorhandenes in einen Rahmen ein, editiert, baut um. Die Kant'sche Frage "Was kann ich überhaupt wissen?", heißt gleichfalls: Was kann ich überhaupt komponieren? Der Stand der Instrumente und der digitalen Hardware, die Struktur der Notenschrift und Software, das Archiv Internet, die Konzepte des Hörens, das sind die gegebenen oder weiterzutreibenden Medien der Komposition. Und mittlerweile arbeite ich darum auch als Filmemacher, was heißt, ich begreife Film als Reflexionsmedium der Musik und Musik als Reflexionsmedium des Films.

Zeit hat keine Geschwindigkeit, sie vergeht absolut gleichmäßig. Musik hat alle Zeit der Welt, vom Zeitpunkt zur Zeitfläche und zum Zeitraum, aber sie verbraucht diese unweigerlich. Jedes Cellostück verbraucht wieder ein bisschen mehr vom Cello. Das Cembalo ist längst und nahezu vollständig aufgefressen vom Barock. Die Instrumente werden Stück für Stück in Musik umgesetzt, bis sie aufgebraucht sind.

Schaut man einen Film, dann schaut man Vergangenes. Er präsen(s)-tiert, vergegenwärtigt Vergangenheit. Bilder und Klänge erscheinen, die irgendwann früher aufgenommen wurden, die agierenden Personen sind mittlerweile älter; letztlich ist jedes Porträtfoto, schreibt Susan Sontag, ein Memento Mori. Wenn Musik ein Reflexionsmedium für Film ist, dann kann Musik als Film in besonderem Maße auch ein Reflexionsmedium für Zeitlichkeit, also für Geschichte sein. Der Schnitt, danach Dauer und Rhythmus, die zu entfaltende Falte, die Häufung, die Verdichtung, Kontraktion und Auflösung, Zeitsturz, Verschiebung vom Erlebten ins Erinnerte – dem soll hier die Aufmerksamkeit und Fantasie gelten. Klangvisualisierung ist eine Klangarchivierung. Der ganze Film ist eine strukturelle Reflexion darüber. Und auch der Versuch einer Vision.

Der Mensch ist mit dem Begriff wie mit dem Schnitt talentiert, mit dessen Wucht er seine Welt von Chaos scheidet, und man hört gleichfalls begrifflich. Hören ist – mittlerweile – von sprachlichem Wissen zutiefst durchsetzt. Der Schnitt im Film ist gleichfalls Zeilenumbruch, Sekundenschlaf, totes Intervall. Schon mit dem Lidschlag fängt es an, ein Shutter, ähnlich den 25 Einzelbildern pro Sekunde, jenem Trug, auf dem Filmbewegung überhaupt fußt. Wann sind wir uns in der "Echtzeit" der fälligen Schnitte, Revisionen, Reste, Aneinanderkettungen und Auslassungen schon bewusst – oder umgekehrt, der Illusion von Kontinuität überhaupt. Aber der Schnitt kann auch heilen. Er vermag den Gordischen Knoten zu lösen.

In Friedrich Nietzsches Beschreibung vom "letzten Menschen", der – perfektioniert – alle Geschichte hinter sich gelassen hat, ist mehrmals davon die Rede, dass dieser auffällig blinzelt, und jahrelang habe ich mich gefragt, was dieses Detail zu bedeuten hat. Vielleicht das: Ohne weitere geschichtliche Zäsuren verselbständigt sich die Grundfunktion von Wahrnehmung zu einem selbstreferenziellen Tick, übermotorisch und halb blind, sie teilt, wo es gar nichts mehr zu teilen gibt. Der letzte Rhythmus ist der der Wahrnehmung selbst, und paradoxerweise geht damit Blindheit einher. Wahrnehmung muss anderes wahrnehmen. Autoreflexion ist unerlässlich, aber nicht jede Gehirnzelle kann sich selbst denken. Die Kamera kann sich nicht selbst filmen, so wie der Hammer nicht sich selbst behämmern kann. Sitzt der Stiel locker, braucht es einen zweiten Hammer, um ihn wieder fest einzuschlagen und ihn damit zum Hammer zu machen; der (Kamera-)Blick braucht andere Blicke, die Musik braucht andere Musik, einen geschichtlichen Unterschied, einen "Gap" zwischen den Musikstücken, Nacht zwischen zwei Tagen. So wie Kunst sich nicht einfügt ins Kontinuum der Zeit, sondern darin eingreift und unterbricht.

Hinzu ist gekommen, dass zur Zeit der Entstehung des Films das Corona- Virus hereinbrach. Erst eine Naturkatastrophe, dann auch schnell eine des Ringens um Wahrheit, eine epidemiologische und epistemologische Krise. Form und Rhythmus von Informationen werden in Zeiten der Unsicherheit zu besonders empfindlichen Faktoren, sie werden unversehens zu Rhythmen der Geschichte: Kurvenverläufe, Prognosen, Wendepunkte, Lebensenden. Dem unglücklichen Moment muss man nicht sagen: Verweile doch! Das tut er von sich aus schon. Unglück wird potenter memoriert als Glück – verweile doch nicht! In diesem recht düsteren Loch nahm der Film seine Gestalt an.

Das hier ist ein Kinofilm. Die Arbeit zerfällt immer mehr in viele, viele Einzelkonzepte. Hier lag im Laufe der Entstehung ein großer Pool vor, aus dem ich zusammengestellt habe, das Minusbolero-Verfahren auf das eigene Material angewandt: ein ständiges Selbstfiltern. Es hätte auch anders werden können; das Werk könnte auch eine Rauminstallation sein, mit mehreren großen Screens und Live-Musikern. Doch hier liegt es als fixierter Film vor. Im Kinosaal, ein Inne- und Drinnenhalten, öffnet sich das Zeitfenster eines rechteckigen hellen Fleckens vorne, plus Klang. Der Wert des Kinoraums ist, frei von Düsternis, die Dunkelheit.

English

As is well known, film montage reached artistic maturity through Sergej Eisenstein. And a shot ("Einstellung"), as Rainer Werner Fassbinder says, is in a double sense not only the set angle of the camera perspective, it also shows the attitude of the author. Putting such shots together, relating them to each other, putting them under time pressure, so to speak, then creates a complex statement.

In music, one is used to the unity of performance. You can cut up a melody, but hardly a cello and not its player, not the present. Performance cannot be heterogeneous at all; in this practice in the here and now there is no suddenness, everything has its organic catching up, breathing; there is only its own time. Film, on the other hand, needs no upbeat; montage is the art of no upbeat, of shocks. Film is a narrowly defined frame that reveals nothing of the surrounding, and in terms of time, changes of setting follow one another abruptly, between which there may actually have been hours, weeks, a century. Their sequences are possibly reversed, the time cursor jumps continuously, back and "over graves forward”. In contrast to the rhythms of a cello played live, the continuum of time is lost in the rhythms given to a cello recording by cuts, replaced by artificial arrangement or perhaps by order or time itself. Film is a time medium in a double sense: it transmits past time in its own time sequence. "The abnormal movement inherent in the cinematographic image frees time from any concatenation, it allows a direct presentation of time by reversing the relationship of subordination that binds it to normal movement; 'film is the only experience in which time is given to me as perception.'” (Gilles Deleuze) And this is what I am interested in, in conjunction with music.

The Kantian question, “What can I know at all?” also means: What can I compose at all? The state of instruments and digital hardware, the structure of musical notation and software, the Internet archive, the concepts of listening, these are the media of composition that are given or are to be pushed further. And in the meantime I also work as a filmmaker, which means that I understand film as a reflection medium of music and music as a reflection medium of film.

Time has no speed, it passes absolutely evenly. Music has all the time in the world, from time moment to time area and time period, but it inevitably consumes it. Each cello piece consumes a little more of the cello. The harpsichord has long since been eaten up, almost completely, by the baroque period. The instruments are transformed into music piece by piece until they are used up.

When you watch a film, you are watching the past. It makes present, visualizes the past. Images and sounds appear that were recorded sometime earlier, the people acting are older in the meantime; ultimately every portrait photo, writes Susan Sontag, is a memento mori. If music is a medium of reflection for film, then music as film can also be, to a special degree, a medium of reflection for temporality, that is, for history. The cut, then duration and rhythm, the fold to be unfolded, the accumulation, the condensation, contraction and dissolution, the fall of time, the shift from the experienced to the remembered – this is what attention and imagination should be directed to here. Sound visualization is a sound archiving. The whole film is a structural reflection on it. And also the attempt at a vision.

The human being is talented with the concept as well as with the cut, with whose force he separates his world from chaos, and one also hears conceptually. Hearing is – in the meantime – deeply interspersed with linguistic knowledge. The cut in the film is likewise a line break, a microsleep, a dead interval. It already starts with the blink of an eye, a shutter, similar to the 25 frames per second, that illusion on which film movement is based. When are we even aware in "real time” of the required cuts, revisions, remnants, concatenations and omissions – or vice versa, of the illusion of continuity at all? But the cut can also heal. It is able to untie the Gordian Knot.

In Friedrich Nietzsche's description of the "last man”, who – perfected – has left all history behind him, it is mentioned several times that he blinks conspicuously, and for years I wondered what this detail meant. Perhaps this: without further historical caesura, the basic function of perception becomes a self-referential tick, over-motorized and half-blind, it divides where there is nothing left to divide at all. The final rhythm is that of perception itself, and paradoxically, blindness accompanies it. Perception must perceive other. Auto-reflection is essential, but not every brain cell can think itself. The camera cannot film itself, just as the hammer cannot hammer itself. If the handle sits loosely, it needs a second hammer to fix it again and thus make it a hammer; the (camera) view needs other views, the music needs other music, a historical difference, a gap between the pieces of music, night between two days. Just as art does not insert itself into the continuum of time, but intervenes and interrupts it.

In addition, at the time of the film's creation, the Corona virus struck. First a natural disaster, then also one of the struggle for truth, an epidemiological and epistemological crisis. The form and rhythm of information become particularly sensitive factors in times of uncertainty, they unexpectedly become rhythms of history: curves, forecasts, turning points, ends of life. One does not have to say to the unfortunate moment: Linger on! It already does that on its own. Unhappiness is memorized more potently than happiness – don't linger! In this rather gloomy hole the film took its shape.

This is a motion picture. The work breaks apart more and more into many, many individual concepts. In the course of making it, there was a large pool from which I compiled; the Minusbolero procedure applied to my own material: a constant self-filtering. It could have turned out differently; the work could also be a room installation, with several large screens and live musicians. But here it is presented as a fixed film. In the cinema space, a pause and enclosure, the time window of a rectangular bright spot opens before us, plus sound. The value of the cinema space, free of gloom, is darkness.

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Autor/in
SWR