Donaueschinger Musiktage 2011 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2011:"X/Y"

Stand
Autor/in
Clara Maïda
Übersetzung
Bernd Künzig (aus dem Englischen)
Eine Frau und drei Männer stehen hinter Notenständer und Mikrofonen
Clara Maidas „X/Y“ mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart.

Seit einigen Jahren entwickle ich Werke an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlichen Modellen und musikalischen Prozessen.

Mit der Benutzung von psychoanalytischen und neuropsychologischen Aspekten entwickelte ich in meinen ersten Stücken ein dichtes filmartiges Netzwerk, das durchkreuzt wird von vibrierenden Schwingungen und verästelten Wucherungen. Auf diese Art und Weise versuchte ich eine Musik zu schreiben, die komplexe unbewusste psychische Aktivitäten und neuronale Strukturen heraufbeschwört und die veranlasst, über Körperlichkeit nachzudenken.

Mit dieser Annäherung, die die Artikulation von minimalistischen musikalischen Einheiten bevorzugt, entwirft die variable Dichte und die Wanderung von Punkten ein bewegliches Diagramm. Mit meiner Serie "Psyché-Cité/Transversales" begann ich mich für die Beziehung zwischen Klangräumen und urbanen (unterirdischen) Räumen, dem Klangkörper, der Psyche und ihren technologischen und urbanen Auswüchsen zu interessieren. Hierfür erforschte ich eine Art von hybridem Klangbereich, angelegt zwischen organischer und mechanischer Materie, in welcher der Einfluss mikroskopisch kleiner Elemente die Form verzerrt. In meiner Serie "Shel(l)ter" erforschte ich andere wissenschaftliche Bereiche wie die Genetik, die Teilchenphysik oder Nanowissenschaften, die ebenfalls diese Phänomene betrachten. Indem ich von "Klangquanten" oder "Klangmolekülen" spreche, lässt sich meine Musik als "musikalische Genetik" oder "Nanomusik" beschreiben.

Der Titel "X/Y" bezieht sich auf die X- und Y-Chromosomen, die das Geschlecht des menschlichen Genotyps bestimmen. In diesem Stück sind die Ausgangsharmonik und das rhythmische Material aus der Klangübertragung von X- und Y-Chromosomendaten gewonnen. Die Struktur dieser beiden Chromosomen und die verschiedenen Schritte der Meiose (die Zellteilung der sexuellen Fortpflanzung) beeinflussen die musikalische Form und die Zustände der Instrumentation.

Während der dynamischen Entwicklung der Meiose bewegen sich die männlichen und weiblichen Chromosomen sehr geradlinig in der Zelle. Sie wandern zwischen dem Zentrum, in dem die Rekombination ihres Materials stattfindet, und der Peripherie. Diesem biologischen Modell entsprechend ist der erste Teil des Stückes um zwei Einheiten herum gebildet – Vokales und Perkussives –, die nicht aufhören, ihre Klangsphären auszutauschen. Wenn das zentrale Trio perkussiv ist, dann ist das Quartett am Rand vokal und vice versa. Diese beiden Klangelemente wandern zwischen dem Zentrum und der Peripherie wie die Chromosomen bei der Meiose. Die musikalischen Elemente wandern ebenso von einem Sänger zum anderen und bilden diagonale Achsen zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen links und rechts.
Die Bühnenaufstellung der Sänger ist anhand von zwei Kriterien festgelegt. Einerseits bezieht die Aufstellung sich graphisch auf das X und Y. Zwei Räume sind dabei ineinander verschränkt. Vier Positionen am Rand bilden das X und werden von den beiden hohen Frauenstimmen und den beiden tiefen Männerstimmen besetzt. Drei Positionen im Zentrum der Bühne bilden das Y und werden vom Mezzosopran, dem Countertenor und dem Tenor besetzt.

Auf der anderen Seite ist der weibliche Raum auf der linken, der männliche auf der rechten Seite der Bühne lokalisiert. Im Zentrum nimmt der Countertenor die Position eines "hermaphroditischen" Poles ein. Seine Position ist zugleich der Verschmelzungspunkt der beiden Geschlechter und der Kreuzungspunkt der Diagonalen des durch die X-Position bestimmten Raumes und des durch das Y gebildeten Dreiecks, das jenen Moment antizipiert, zu dem das weibliche und männliche Chromosomenmaterial sich am Äquator der Zelle austauscht.

Die Farben der Kleider der Sänger unterstreichen die Polarisation, indem die Frauen Schwarz (Yin) tragen und die Männer Weiß (Yang). Der Countertenor in Schwarz und Weiß vereint diese Gegensätze in einer Einheit. Er zeigt ebenfalls an, dass die traditionelle Bipolarität keineswegs eindeutig ist und dass die komplementäre Natur in jedem von uns vorhanden ist.
Das Stück befragt die Identität von Mann und Frau, ebenso wie Liebe und Begehren. Wie die Psychoanalyse gezeigt hat, reichen Letztere weit über das biologische Feld hinaus. Die Dimension der Imagination ist grundlegend. Die Suche nach Liebe vereint sowohl die Suche nach dem Selbst und dem Anderen. Die musikalische Bewegung/Emotion fordert den Ausbruch und die emotionale Fragilität heraus, in die sie uns hineinwirft. Man kann sich selbst in diesem Spiegelkabinett finden oder verlieren. Denn x und y sind ebenso die unbekannten Faktoren einer mathematischen Gleichung. Was erkennen wir vom Anderen, der zugleich ähnlich und different ist? Wirklichkeit und Einbildung kollidieren insofern, wie die Leidenschaft intensiv ist. Ist die Kenntnis des Anderen, von einem Selbst, überhaupt möglich jenseits dieses alles verhüllenden Schleiers? Die Stimme der Liebe, ausgesandt oder gehört, kommt aus unserem Inneren, aus unerforschten psychischen Zonen. Deshalb wird die Stimme während des ganzen Stückes nur gefiltert wiedergegeben. "X/Y" ist Christine Fischer und Rainer Pöllmann zu ihrer Hochzeit gewidmet.

Stand
Autor/in
Clara Maïda
Übersetzung
Bernd Künzig (aus dem Englischen)