Die Entstehungsgeschichte des "Zweiten Streichquartetts" beginnt mit meinem "Streichquartett" aus dem Jahr 2002. In mancher Hinsicht ist dies selbstverständlich. Nichts desto trotz, das erste, acht Jahre zurückliegende Streichquartett – dessen Material, die Beziehungen der Spieler untereinander, die Annäherungen an die Instrumentation und auch der Titel – begründeten absichtlich (und auch selbstbewusst) mein Verhältnis zum Streichquartett als Komponist.
Ein winziges Detail erscheint rückblickend von Bedeutung: Das Werk ist weder als "Erstes Streichquartett" noch als "Streichquartett Nr. 1" noch mit etwas mehr Poetischem oder Heraufbeschwörendem betitelt, sondern schlicht als "Streichquartett". Die Ambiguität des Titels war für mich wichtig. Er ist weder exklusiv noch eine Gattungsbezeichnung, auch keine Instrumentation und es mangelt ihm an einer Zuordnungsnummer, die seine Ambiguität aufklären könnte. Das Erscheinen einer Zahl hätte, in meinem Verständnis, das Werk sofort "in der Tradition" verortet, deutlich bezogen auf historische Modelle, und als ein vernünftiger junger Komponist war ich nicht davon überzeugt, einen Beitrag zur "Idee", zur "Geschichte" des Streichquartetts leisten zu können. Ich kämpfte heftig mit dem Titel, schwankend zwischen verschiedenen Arbeitstiteln, um schlussendlich (und irgendwie widerstrebend) festzustellen, dass das, was ich gerade machte, in der Tat ein Streichquartett war und dass dies nicht eine Frage der Instrumentation war (gar der Festlegung der Instrumentation, wie es bei einem Klaviertrio oder einem Holzbläserquintett oder, in einem mehr relativierenden Sinn, bei einem ‚Orchester' der Fall ist), sondern mehr eine Frage war, was ich unter den Grundprinzipien eines Streichquartetts verstand. Diese Prinzipien – die Art und Weise, wie die Spieler vorgingen und interagierten; die Geschichte der Gattung und dessen anhaltende formale Experimente, die Bedeutung der Instrumentation / der Gattung in Bezug auf die Werke anderer Komponisten, die ich bewundere, die erfahrbare Bedeutung der Gattung und seine Rolle innerhalb der westlichen Musikgeschichte – waren von Anfang an in meinem Bewusstsein, gleichgültig, ob ich in der Tat ‚bereit' war, ein Streichquartett zu schreiben. Viel bemerkenswerter war, dass dies die Voraussetzungen waren, die ich angehen musste, und in diesem Sinne war das Werk wenn nicht "ein Streichquartett", so doch zumindest "über" das Streichquartett. In gewisser Hinsicht gelangte ich zur Überlegung, dass das Quartett kein historisches Modell, noch nicht einmal eine historische Gattung oder eine historische Form, sondern vielmehr etwas weniger Festgelegtes, weniger Stabiles ist.
Vielleicht weil das Werk im Kontext meiner Dissertation an der Universität von Buffalo geschrieben wurde, an der Morton Feldman vierzehn Jahre unterrichtete, ist es ein "Streichquartett". Obwohl Feldman eine Vorliebe besaß, seine Stücke nach ihrer Besetzung zu benennen – "Klavier und Orchester", "Drei Klarinetten, Cello und Klavier", selbst "Klavier, Violine, Bratsche, Cello" (anstatt ‚Klavierquartett') – entschloss er sich plötzlich für ein Streichquartett. Es gibt verschiedene frühere Werke "für" Streichquartett – als Instrumentalbesetzung – und dann, in jenem Moment, als die Tendenz die Werke nach ihrer instrumentalen Zusammensetzung zu benennen, etabliert war, um 1979, tauchte das "Streichquartett" auf. Für mich ist das ein bemerkenswerter Standpunkt. Unabhängig, ob Feldman dies beabsichtigte, ist das Werk ganz bestimmt "ein" Streichquartett. Es ist ganz deutlich mit etwas verbunden, das mehr ist als zwei Violinen, eine Viola und ein Cello und es ist mehr als ein ‚Streichquartett' im Sinne eines Ensemble (wie im Falle von Arnold Schönbergs Pierrot lunaire-Ensemble oder dessen Bläserquintett). Der Titel des Werks scheint eine Bezugnahme zu früheren Werken zu besitzen, die den gleichen Titel teilen; was für mich allerdings interessanter erscheint, ist, dass dieser besondere Akt der Benennung nicht unbedingt ein Hinweis ist, eine weitere Aussage (oder gar einen Rückgriff) in einer historisch aufgeladenen, linearen Weiterentwicklung zu machen (wie es vielleicht bei einem Komponisten im späten 20. Jahrhundert der Fall sein mag, wenn er eine ‚Sinfonie' schreibt), sondern dass es etwas sehr anderes ist – es scheint anzuerkennen, dass das Streichquartett eine lebendige, zeitgenössisches Gattung ist und nicht eine historische, sondern eine fortgesetzte Konversation, eine erweiterbare Form. Meine eigene Wahl des Titels im Jahr 2002 war die Bestätigung einer selbstbewussten, persönlichen Verbindung zu den Quartetten von Feldman, Ferneyhough, Carter und Ligeti und auch zu Janacek, Ravel, Brahms, Beethoven und selbstverständlich Haydn und besonders zur Haltung des Entdeckens und mutigen Experimentierens, die in so vielen Werken des Genres präsent ist (Feldmans zweites, Carters drittes und die späten Quartette Beethovens...). Nichts ist somit schwieriger als die Titel. Die Quartette von Lachenmann, Nono, Xenakis oder selbst von Cage sind eindeutig Streichquartette. Aber was ist es dann, was ein Werk "für" Streichquartett von "einem" Streichquartett unterscheidet?
Als ich diese Frage im Zusammenhang meines neuen Stückes erörterte, wurde mir klar, dass die Bedeutung der "Quartetthaftigkeit" vor allem aus der hauptsächlich polyphonen Syntax herrührt, die aus der einzigartigen Klanglichkeit und der interpersonellen Konstellation des Ensembles erwächst. Die Instrumentalbesetzung (und ihre Möglichkeit, höchst einzigartig vereinte und massiv verschiedenartig differenzierte Klangwelten zu erzeugen) ergibt ausgeprägte Möglichkeiten, eine Reihe von Interaktionsstrategien auszuschöpfen (die wiederum mit dem musikalischen Material in einer komplexen, netzartigen, vieldimensionalen Art und Weise interagieren), die verschiedenartige Annäherungen an die Polyphonie, Tiefenschichten, Homophonie, Soli, Duos, Trios usw. ermöglichen. Derartige Interaktionen sind selbstredend auch in anderen Formen von Ensembles möglich. Was es in diesem Fall so einzigartig macht, ist der "interpersonelle" Aspekt dieser Kommunikation, die Bedeutung der "Persönlichkeit", der sich verändernden Ensembledynamik, von Typen der persönlichen Interkation. Das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv ist im Streichquartett viel komplexer und komplizierter als in jeder anderen standardisierten Instrumentalkombination, und es ist hauptsächlich dieser Aspekt vor allen anderen, der im Streichquartett das Experiment in einer so extremen Form erlaubt, wodurch die Identität des Quartetts als Kollektiv gegen die Identität jedes einzelnen Spielers, wiewohl gegen die Rolle und Funktion jedes einzelnen Instruments angeht.
Besonders angezogen bin ich von der historischen Überlieferung des Experiments in diesem Genre. Was mich sehr fasziniert, ist, dass das Streichquartett zumeist eine Form der Fokussierung und der Verdichtung (eine Zusammenführung) und gleichzeitig ein Sprungbrett, eine Herausforderung und eine Richtungsänderung ist. Das Quartett ist oft ein Ort für neues Material, neue Methoden, neue Annäherungen an die Form (und an die Wahrnehmung und das Hören), neue Instrumentaltechniken, neue Notationen – der Gattung scheint der Geist des Experiments und des Risikos eingeschrieben (möglicherweise aufgrund seiner Geschichte oder möglicherweise in einem Sinne, der auf die oben angeführten Charakteristika des Quartetts zurückzuführen ist), das Quartett führt aber ebenso einen Geist der Raffinesse und der Kultiviertheit mit sich, oft auch einen Geist, den frühere Experimente verfestigt haben, und Materialien können deutlicher artikuliert werden. Dieser Kampf zwischen Öffnung und Abgeschlossenheit war sicherlich in meinem ersten Quartett der Fall und ist es auch in diesem Stück.
Das frühere Stück bezog eine klare Sichtweise und eine Minimierung früherer Experimente mit ein, die ich in instrumentaler "Entkoppelung" gemacht habe, eine Trennung verschiedener Aktivitäten der Klangerzeugung (bezogen auf vergleichbare Werke von Hübler, Barrett, Ferneyhough und anderen). Mit dieser Annäherung an die Instrumentation habe ich um 2002 für zwei bis drei Jahre gearbeitet, aber das "Streichquartett" bezog eine bezeichnende Reduktion möglicher Spieltechniken mit ein und – gleichzeitig – einen neuen Weg des Denkens über das Material (in diesem Fall die Spieltechniken bevorzugend bis zu dem Punkt, dass diese selbst das Material waren und weniger Mittel zum Zweck). Mein Verhältnis zur Stimmung und Harmonik veränderte sich durch dieses Werk dramatisch, und was als "Abschluss", als Verfeinerung begann, erzeugte eine bemerkenswerte Öffnung, ein Sprungbrett für acht Jahre neuen Experimentierens. Das "Streichquartett" – in der Tat mehr die Fehler des "Streichquartetts" – führten zu einem langen aber äußerst fruchtbaren Prozess der Entwicklung einer Griffnotation, die viel besser die Rolle der physischen Präsenz des Materials repräsentierte und vermittelte. Aus dieser Notation entwickelte sich eine Reihe von Werken (nicht nur für Streicher, sondern auch für Blech- und Holzbläser), und in mancher Hinsicht führte diese Griffnotation zu seiner eigenen Verbesserung im "2. Streichquartett". Während in meinen früheren Werken für Streicher jede individuelle Lage der Spiel-Bewegung (die in der x-, y- und z-Achse notierte Spiel-Bewegung galt für beide, die rechte und die linke Hand) unabhängig in einer separaten Notenlinie notiert wurde, sind hier die Bewegungsabläufe in einer einzigen (mehrfarbigen) Notenlinie zusammengeführt.
Diese einfachere, direktere und unmittelbarere Vorstellung des Materials – was auch im "Streichquartett" der Fall war – eröffnete für mich einen äußerst beglückenden neuen musikalischen Materialstand. Da waren plötzlich neue Bewegungen, neue Gesten, neue Denkwege wie diese Gesten organisiert, wie substantiell komplexere Texturen erzeugt werden können als es mir in meinen früheren Werken möglich war, und ¬– entscheidend – neue Wege des Denkens, wie derartiges Material in die einzigartig polyphone Welt eines Streichquartetts eingefügt werden kann.
Der bedeutendste Aspekt dieser Öffnung war die Befreiung der Spieltechniken von ihrer gewöhnlich verorteten Rolle. Auf das "Streichquartett" traf zu, dass es ein Stück "über" das Streichquartett ist (wie im Programmtext des ersten Streichquartetts zu lesen war: "über vier Spieler, vier Streicher, die physische Natur der Klangerzeugung von Streichinstrumenten, die Durchmischung von Bogen, Saite und Finger"). In diesem Fall ist das Streichinstrument ein viel offenerer, ungebundener topographischer Raum. Die linken und die rechten Hände bewegen sich frei in diesem Raum, mit sorgfältig eingezeichneten Bewegungsarten – für die linke Hand: die Auf-und-Ab-Bewegung am Griffbrett, die Spreizung der Finger und der Druck der Finger gleiten unabhängig mit einer Art von zäher, instabiler Bewegung; für die rechte Hand: der Berührungspunkt zwischen Bogen und Saiten entlang der Saite, der Bogendruck und die Geschwindigkeit der Auf-und-Ab-Bewegung sind wiederum in drei separaten Linien möglicher Bewegungen notiert. Diese Notationen von Geschwindigkeit, Druck, von seitlichen und horizontalen Bewegungsabläufen hat mir die Möglichkeit eröffnet, über Klangproduktion nachzudenken. In diesem Sinne hat ein derartiges Denken mich dazu herausgefordert, Musik und Notation zu verfeinern und zu präzisieren; es hat mir ein neues klangliches Spielfeld eröffnet, ein beglückendes neues Laboratorium, von dem ich hoffe, dass es meine Aufmerksamkeit für die nächsten Jahre gefangen hält.
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