Donaueschinger Musiktage 2005 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2005: "Archeologia del telefono"

Stand
Autor/in
Salvatore Sciarrino
Übersetzung
Barbara Maurer (aus dem Italienischen)

(Archäologie des Telefons)
Concertante für 12 Ausführende

Die Archäologie der Gegenwart bewirkt einen beträchtlichen mentalen Kurzschluss. Unsere Zeit, die uns modern scheint, wird plötzlich in einen Zusammenhang gesetzt, welcher sie der Welt des Unbelebten überantwortet. Da nun entdeckt die Ironie die Gegenstände und belebt sie wieder, denn sie werden Teil eines Blickpunkts, der an anderer Stelle steht, vielleicht in der Zukunft: Tatsächlich ist das Leben ohne Tod nicht vollendet. In gewissem Sinne muss jedes Ding durch das Werden hindurchgehen, um zu unserem Bewusstsein zu dringen. Ein schneidendes Licht ist nötig, um die eigene Identität vom Banalen zu befreien.

Meine Kompositionen neigen zum Verdorren, die Strukturen zur Selbstdarstellung, der Inhalt möchte Wirklichkeit werden, wenigstens zum Schein, während das Hören an einen Nullpunkt gelangt und wir Klänge und Stille verändert wahrnehmen. In Archeologia del telefono wechseln solistische Momente mit Stillständen ab, wo die Musik sich mit technologischen Signalen maskiert; sie bleibt zwar instrumental, verbirgt sich jedoch hinter neutralen Linienzeichen.

"Tempo di Policronio", die Anweisung steht am Anfang der Partitur, einem gewissen Wahnsinn entsprechend, der mir zu eigen ist. Der antike Name (Policronio: der mehrere Geschwindigkeiten hat), der zu Beginn der byzantinischen Epoche in Mode war, verkörpert bestens die dimensionale Zusammenhanglosigkeit, wie sie von den aktuellen Technologien hergestellt wird.

Die Natur der technologischen Kommunikation ist unstet und zufällig. Die Leitung öffnet und schließt sich, erzeugt ein Ritual des Annehmens oder Verweigerns, eingebettet in eine völlig relative Erfahrung, relativ, insofern sie an jeder Art von Orten angeboten wird. Freizeichen und Besetztzeichen finden Entsprechungen in psychologischen Reaktionen und Zuständen belohnter oder frustrierter Erwartung. Die Dramaturgie des klanglichen Inhalts befindet sich immer innerhalb meiner Musik, manchmal allerdings erklärt sie sich und kommt nach außen (wie in Efebo con Radio und Cadenzario); da wird die Klangdramaturgie dann zu einer unverzichtbaren Übung, um unsere Konditionierungen bloßzulegen und auch darüber zu lächeln.

Wenn sie intelligent benutzt wird, bringt uns die Technologie die prächtigen Früchte des menschlichen Denkens bis vor die Haustür. Doch werden wir alle mehr oder weniger vom trügerischen Mythos der Moden bestürmt, einem unwiderstehlichen Mythos, der von der Technologie hervorgebracht wurde, sich aber auch mit ihr identifiziert.

Tatsächlich ist es nicht die allerneueste Entdeckung, die uns modern macht: Jede technologische Neuerung reduziert sich, sobald sie in den Medien erscheint, auf das Wesen des reinen Kommerzes. Ich gebe ein Beispiel. Nicht das neueste Mikrofon ermöglicht uns die absolut besten Aufnahmen. Es existiert keine künstlerische Modernitätsformel, obwohl viele Menschen das meinen. Wo der Fernsehbildschirm den Einzelnen aus dem Beziehungsleben isoliert und in seine Zelle gesperrt hat, raubt das Mobiltelefon nun auch noch unserem Sprechen die Phase des Nachdenkens. Das Geschwätz nimmt seinen Lauf, belegt jeden Augenblick. Das Verbindende der Zeit ist inzwischen aus berührungslosen Worten gewoben, nur aus einer Art Außenhaut von Dialog. Mit der scheinbaren Verfügbarkeit für die Anderen bewirken die Mobiltelefone eine unendliche Auffindbarkeit und verwandeln die Beziehungen in etwas Irreales, aber Klebriges. Ich, der ich keinerlei Mobiltelefon besitze, beobachte ziemlich seltsame, weil einsame Verhaltensweisen: Auf den Gehwegen äußert sich Besessenheit, die früher zuhause zum Ausdruck gekommen wäre, häusliche Dramen werden im Zug und überall wiedergegeben. Die Mehrheit der Italiener hat die Gehirnwäsche eines miserablen Fernsehens erlitten. Neuerdings halten die Italiener den Rekord im Gebrauch von Mobiltelefonen: ein Rekord aus Abhängigkeit und Verlust.

Ich weiß nicht, wer den ehrlichen Wunsch hegt, die Giftigkeit der Repetitoren zu erforschen. Im Fall der Mobiltelefone wusste man schon von den ersten Modellen an (die heute schon darauf warten, für Antiquitäten gehalten zu werden), dass sie das Hirn schädigen. Doch wir waren berauscht von den ersten Wellen, kümmerten uns nicht darum und haben stattdessen das Rauchen verboten, dessen Gift seine Zeit hinter sich hat. Durch die globale Verbreitung des Mobiltelefons hat man die Möglichkeit, nie mit dem Reden aufzuhören, in einer illusorischen Art von Exklusivität, welche die Nähe ersetzt; im Moment herrscht große Verwirrung oder vielmehr eine ätzende Vermischung von Marketing und Privatleben. Wir sind ständig in Erwartung eines Anrufs, der uns aus unserer gleichgültigen Einsamkeit reißen soll. Ein "persönlicher" Klingelton, der aus den offensichtlichen Feinheiten der Witzchen ausgewählt wurde. Zu viele Personen meinen, sie würden persönlicher, indem sie mit genau den gleichen Banalitäten spielen. Miauen, Vögelchen, Nostalgietelefone, ein unendlich reiches Schaufenster voller kurzer Klanganhaltspunkte, ehrgeizig und flüchtig, die exponiert werden einzig und allein, um den Nachbarn zu beeindrucken. Ich verfolge diese Apparate in meiner Vorstellung bis dahin, wo sie traurig und ernst auf den Regalbrettern eines Museums liegen werden.

Stand
Autor/in
Salvatore Sciarrino
Übersetzung
Barbara Maurer (aus dem Italienischen)