Donaueschinger Musiktage 2003 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2003: "Point-Blank"

Stand
Autor/in
Dror Feiler
Übersetzung
Lydia Jeschke (aus dem Englischen)
Lydia Jeschke

"Es steckt etwas eigentümlich 'terroristisches' in jeder authentischen Handlung, in ihrer Geste der völligen Neudefinition der Spielregeln."

(Slavoj Zizek)

Wir leben in einer freien Gesellschaft. Wir genießen demokratische Rechte. Wir haben einen hohen Lebensstandard. Wir gehören zu einer unbekümmerten Kultur, die Verschiedenheiten toleriert. Was ist also das Problem? Warum und von welchem Standpunkt aus kann die Linke hoffen, die herrschende Ordnung zu kritisieren, den Kapitalismus in seiner derzeitigen Form?

"Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt." (Karl Marx / Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest, 1848)

Für mich gibt Hegels Konzeption von Substanz als Subjekt eine mögliche Antwort auf diese Frage. In seiner Phänomenologie argumentiert Hegel, dass Substanz – Wirklichkeit dieselbe Struktur aufweist wie das Subjekt – Bewusstsein, was ihre letztliche Wiedervereinigung im Geist ermöglicht. In beiden Fällen ist diese Struktur unvollständig, und ihre Negation – was außerhalb liegt – ist Teil ihrer Existenz, so dass Bewusstsein und Wirklichkeit durch ständige Bewegung, andauernden Wechsel definiert werden, während sie danach streben, dieses Loch im Zentrum ihres Daseins zu füllen. Tatsächlich ist der Geist diese Bewegung, die sie teilen. Das Bewusstsein versucht, die Wirklichkeit zu verstehen, nicht, sie sich anzueignen, aber es kann niemals die Lücke schließen, die es dazu bestimmt, Bewusstsein zu sein und nicht die Wirklichkeit selbst, während zur selben Zeit die Wirklichkeit das Bewusstsein durchaus enthält, das Bewusstsein also real genug ist.

Eines der boshaftesten Attribute des Spätkapitalismus ist seine Fähigkeit, allen Widerstand im Namen der Akzeptanz zu absorbieren. Dieses Konzept selbst kann als unglaublich brillant und als extrem gefährlich angesehen werden: Herrschaft durch Akzeptanz. Genau dies ist es, worauf ein Philosoph wie Zizek abhebt, wenn er schreibt, dass der "ständigen Aktivität von fließenden, sich verschiebenden Identitäten, des Bildens multipler ad-hoc-Koalitionen... (in unserer so genannten 'post'kapitalistischen Gesellschaft) etwas Unauthentisches innewohnt". Indem man scheinbar daran arbeitet, Gleichheit in Begriffen der Akzeptanz zu erreichen, wird jede Möglichkeit, die tatsächlichen politischen oder kulturellen Belange jener "Anderen" anzusprechen, bequem unter den schützenden Teppich des so genannten Multikulturalismus gekehrt.
Ohne das Bestreben, etwas anderes zu werden als man selbst, gäbe es weder Bewusstsein noch Wirklichkeit, denn dies ist es, was sie ausmacht. Wenn das Bewusstsein jemals mit der Wirklichkeit verschmelzen würde, wäre es nicht länger Bewusstsein der Wirklichkeit, und die Wirklichkeit wäre nicht länger Wirklichkeit, das Objekt des Bewusstseins.

"Nur solche Gesten, die diesen trügerischen Kern stören, sind authentische Handlungen."

(Slavoj Zizek)

Die Gesellschaft, die soziale Substanz, konstituiert sich durch dieselbe Struktur, es gibt ein Loch in ihrem Zentrum, und dieses Loch enthält gerade das, was die Gesellschaft ausschließt (negiert), was sie nicht einschließen kann, ohne sich selbst zu zerstören. Und genau an diesem Punkt des Ausschließens kann Gesellschaftskritik ansetzen.
Ein besonders schlüssiges Beispiel dieser Art von "Hegemonie der Absorption" ist: der Protest. Die moderne Protest-Kundgebung, der Protest-Marsch oder der kulturelle Radikalismus sind einfach zu einem weiteren "akzeptierten" Ereignis geworden. Anstelle des Versuchs, Protest und radikale Kultur zu unterdrücken und als ernste Bedrohung der Sicherheit, Politik und/oder Moral zu behandeln, hat sich die Strategie entwickelt, den Protest einzukreisen und zu vereinnahmen. Auf diese Weise wird dem Protest, der Geste gestattet, sich innerhalb des vorgesehenen Settings zu entfalten, was die Protestierenden und die Künstler ohnmächtig macht, jede Möglichkeit eines Systemwechsels ausschließt und den Status quo manifestiert.

Wie können wir dasjenige, was aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen ist, entdecken, unter der Voraussetzung, dass es außerhalb und nicht irgendwo in unserer Nähe zu finden ist? Für mich, oder wie auch Lacan sagte, ist es die "traumatische Begegnung mit dem Realen", dass die Wahrheit unserer Gesellschaft, dessen, was sie ausgeschlossen hat, um überhaupt zu existieren, entdeckt werden muss.
Schließlich sind wir bei der Frage angelangt, wie irgendein Wechsel innerhalb eines System, das auf der "Hegemonie der Absorption" basiert, aufgenommen wird. Die Antwort ist: gar nicht. Um irgendeinen wirklichen Wechsel anzunehmen, muss das System gebrochen werden. Die einzige rein authentische Handlung, die einzige Handlung, die die Chance hat, das herrschende System auf ein ebeneres Fundament zu stellen, ist diejenige, die dazu führt, dass das System in bestimmter Weise sein eigenes Fundament verliert. Oder, wie Zizek schreibt, "Das heißt, es steckt etwas eigentümlich 'terroristisches' in jeder authentischen Handlung, in ihrer Geste der völligen Neudefinition der Spielregeln."

Der 11. September war trotz seines ruchlosen und infamen Charakters genau ein solches Zusammentreffen. Das System wurde gebrochen, als es die Unschuldigen in New York waren, die starben, statt die Unschuldigen der Dritten Welt, wie es normaler Weise war und ist. Das Trauma des 11. September liegt schließlich nicht nur im Schrecken des Zusammenbruchs der Twin Towers, derartige Zerstörung macht den Hauptgegenstand der üblichen TV- und Kino-Unterhaltung aus. Wie sowohl Zizek als auch Jean Baudrillard herausgestellt haben, liegt genau darin, dass diese Art von Katastrophe so sehr Teil unserer Kultur ist, der Grund dafür, dass die Zielscheibe der Terroristen in gewissem Sinne von uns für sie ausgewählt wurde, vorgeschlagen in unzähligen Hollywood-Filmen und sogar im Detail ausformuliert durch Tom Clancy in seinem Bestseller-Roman über Flugzeuge, die ins Weiße Haus krachen.

Dies ist es also, wo wir uns befinden, in der unbequemen Position, die zum radikalen Aufbruch bevollmächtigt. Offenbar müssen wir sogar dort sein, wenn wir den Wunsch haben, uns hinter die scheinbar allgegenwärtige Grenze des Spätkapitalismus und seiner Kultur zu bewegen. Bequem innerhalb des Systems zu arbeiten, wird sich als nicht weniger erweisen denn als eine Übung in Sinnlosigkeit.

Stattdessen liegt das Trauma in gerade jenem Aspekt des Ereignisses, den das postmoderne westliche Denken unmöglich in Begriffe fassen kann – die Tatsache, dass es da draußen (Palästina, Afghanistan, Kolumbien, Mexiko) Leute gibt, die gewillt sind, ihr Leben für eine Sache zu geben, an die sie glauben. Es ist genau diese Idee, die aus der Perspektive des alltäglichen Lebens in New York, Berlin, Paris, Stockholm oder London schlicht undenkbar ist.

Dror Feiler, Juni 2003