Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: "Teile dich Nacht"

Stand
Autor/in
Karin Rehnqvist
Übersetzung
Gisela Gronemeyer (aus dem Schwedischen)

In der traditionellen schwedischen Musik gibt es eine Vokaltechnik, die auf eine Distanz von mehreren Kilometern hinweg vernehmbar ist. Früher wurde sie von Frauen eingesetzt, um Kühe, Schafe und Ziegen zusammenzurufen, Raubtiere wie Wölfe und Bären abzuschrecken oder einfach, um sich über große Entfernungen zu verständigen. Oft war ein junges Mädchen im Sommer allein in einer Hütte, einer "Sennhütte", um das Vieh zu hüten und zu versorgen. Unter diesen Umständen war es lebensnotwendig, sich vernehmbar zu machen.

Diese Singweise, die im Schwedischen "kulning" genannt wird, zeichnet sich durch kräftige, unmittelbare Tongebung ohne Vibrato in hoher Lage aus. Die Technik hat mich immer fasziniert, und so hatte ich bei der Komposition von Teile dich Nacht als erstes die Idee, zu untersuchen, wie dieser Klang sich mit einem Chor mischt. Sowohl was den Ausdruck als auch was die Lautstärke angeht, wollte ich ein starkes Stück schaffen. Ich hatte vor, mit Lena Willemark als Solistin zu arbeiten. Sie ist in erster Linie Volksmusiksängerin, aber verfügt über ein in jeder Hinsicht unerhörtes Register. Ihre phantastische Stimmkunst und das Vermögen des SWR Vokalensembles inspirierten mich in hohem Maße und stellten eine echte Herausforderung dar.

Der Anfang der Kompositionsarbeit verlief aber ganz anders, als ich geglaubt hatte. Auf der Suche nach Texten, in denen der Klang und die Lautfärbung der Worte genauso wichtig ist wie ihr Inhalt, stieß ich auf ein Gedicht von Nelly Sachs. Ich war betroffen. Hier gab es die Spannung und Kühnheit, nach der ich suchte, hier fand ich eine unglaublich schöne und eigentümliche Sprache.

Teile dich Nacht
deine beiden Flügel angestrahlt
zittern vor Entsetzen
denn ich will gehn
und bringe dir den blutigen
Abend zurück

Anstelle von "kulning" und starkem Gesangsausdruck erforderte dieses Gedicht eine ausgesprochen schwache Dynamik: atemlose Stille. Ich arbeitete im Bewußtsein, den letzten Satz – die Conclusio – des Werkes zu komponieren und nicht den Anfang. Der Idee einer Vermischung von "kulning" und Chor habe ich dagegen im längeren Gedicht "Chor der Sterne" der gleichen Autorin Ausdruck verliehen.

Wir Sterne, wir Sterne
Wir wandernder, glänzender, singender Staub
Unsere Schwester die Erde ist die "Blinde" geworden
[...]

Auf diese Weise wurden die Sterne und die Nacht zum sprachlichen Thema des Stückes, und ich suchte und fand in Nelly Sachs' dramatischer Dichtung weitere Texte über die Nacht.

Die Nacht
Ich suche die Nacht
[...]

Nacht warum donnerst du
[...]

Nicht nur die Dichtung von Nelly Sachs, sondern auch ihr Schicksal hat mich betroffen gemacht. Sie wuchs als Kind deutsch-jüdischer Eltern in Berlin auf. Nach einem Verhör durch die Gestapo verstummte sie und konnte vierzig Tage lang nicht sprechen. Aus dieser Stummheit ging ihre Stimme hervor. Verbindungen ermöglichten ihr, 1940 nach Schweden durchzukommen, wo sie seitdem gelebt hat.

Sie schrieb ihre ersten Gedichte im Alter von 55 Jahren. 1966 erhielt sie den Nobelpreis. Ihre Dichtung ist konzentriert und kühn: steile Felswände und sprachliche Neuschöpfungen. Dies habe ich einzufangen versucht. Nachdem das Stück fertig war, wurde mir klar, daß die Stummheit sich nach drei kurzen, abgebrochenen Sätzen in abgrundtief stillen Pausen artikuliert. Das hat bewirkt, daß sich die Formsprache in diesem Werk anders und für mich neu gestaltete. Das schwedische Element bei Nelly Sachs wird durch einige Strophen dargestellt, die von der Solistin auf Schwedisch gesungen werden. Diesen schwedisch-deutschen Aspekt empfinde ich als ganz natürlich, weil er – mit einem schwedischen Vater und einer deutschen Mutter – auch in mir vorhanden ist.

Die Kulningstechnik war einer der Ausgangspunkte für dieses Stück. Die Volksmusik, hier vor allem die ältere schwedische, ist immer eine ungeheure Inspirationsquelle für mich gewesen. Aus ihr entlehne ich Techniken und Prinzipien: die modalen Skalen mit ihren Vierteltönen. Nicht angleichen, sondern die Stimme in verschiedenen Registern verschieden klingen lassen; viel Bruststimme im tieferen, der Hauptklang oder "kulning" im hohen Register. In den Streichern viele leere Saiten einsetzen. Den kleinen "Schmutz" positiv sehen, der beim Bogenwechsel zu hören ist und damit den Puls vorgibt. Kargheit.

Ausdruck, Klang, Artikulation sind wichtige Bestandteile in meinem musikalischen Denken. Mein Wunsch ist auch, eine Art Ursprünglichkeit zu finden. Nicht so sehr nach dem Neuen zu streben, sondern nach der Wahrheit. Das, was der Mensch selbst ist, wenn man von den äußerlichen Requisiten verschiedener Zeiten absieht: Kleider, Schminke, Apparaturen. Obwohl Zeiten und Welten sich verändern, muß jede Zeit doch ihren eigenen Ausdruck finden, und darum muß sich auch die Musik verändern. Um selbst verändern zu können. Daran glaube ich. An die Kraft der Ideen.

"Teile dich Nacht" ist Lena Willemark und dem SWR Vokalensemble gewidmet.

Nacka, den 24. Juli 2002

Die vollständigen Texte:


1. Die Tür der Nacht

2. Ich suche die Nacht

Solo, zweiter und vierter Satz

Die Nacht

Ich suche die Nacht
Wo ist die Tür der Nacht
die wacklige Tür –
Öffne sie mir
Suche suche die Nacht!
Natten

Jag söker natten
Var är nattens dörr
den rankiga dörren –
Öppna för mig
Jag söker söker natten!

3.Chor der Sterne

Wir Sterne, wir Sterne
Wir wandernder, glänzender, singender Staub -
Unsere Schwester die Erde ist die "Blinde" geworden
Unter den Leuchtbildern des Himmels -
Ein Schrei ist sie geworden
Unter den Singenden -
Sie, die Sehnsuchtsvollste
Die im Staube begann ihr Werk: Engel zu bilden -
Sie, die die Seligkeit in ihrem Geheimnis trägt
Wie goldführendes Gewässer -
Ausgeschüttet in die Nacht liegt sie
Wie Wein auf den Gassen -
Des Bösen gelbe Schwefellichter hüpfen auf ihrem Leib.

O Erde, Erde
Stern aller Sterne [...]
Erde, Erde bist du eine "Blinde" geworden
Vor den Schwesternaugen der Plejaden
Oder der Waage prüfendem Blick? [...]
Erde, o Erde
Stern aller Sterne
Einmal wird ein Sternbild Spiegel heißen.
Dann o "Blinde" wirst du wieder sehn!

4. Ich suche die Nacht

5. Das Ewigheitszeichen

Nacht warum donnerst du
Wir wollen doch schlafen

Siehe das Ewigheitszeichen auf der Wand
Siehe die beiden Nullen aneinandergekettet
Siehe sie schlagen die Augen auf
und es fließt die Nacht [...]

6.Teile dich Nacht

Teile dich Nacht
deine beiden Flügel angestrahlt
zittern vor Entsetzen
denn ich will gehn
und bringe dir den blutigen
Abend zurück


Geflüsterter Text im fünften Satz (für das Publikum nicht erkennbar)
So wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit (aus der Liturgie)

Wachstum wächst dunkler als Nacht
Brot schmeckt ferner als Himmel
und Himmel blitzt voller Wahrsagerei

Und einer ist blind
und einer ist lahm
und einer springt in der Nacht in den Bottich
Solch ein Krach in der Nacht
Solche Lauferei und ein Wasserfleck an der Decke

Aus verschiedenen Büchern und Theaterstücken von Nelly Sachs

Stand
Autor/in
Karin Rehnqvist
Übersetzung
Gisela Gronemeyer (aus dem Schwedischen)