Donaueschinger Musiktage | Werke des Jahres 2022

Sasha Blondeau: Atlas III: They

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Werkkommentar von Sasha Blondeau

Seit einigen Jahren beschäftige ich mich mit der Idee des kompositorischen Raums. Für jedes Stück, das ich komponiere, verwende ich topologische Strukturen, in denen ich mich umherbewege, um mir die Form sowie die verschiedenen Verläufe, aus denen sie bestehen wird, vorzustellen und zu gestalten.

Für dieses Stück wollte ich diesen Ansatz um eine allgemeinere Reflexion über den Begriff des Raums ergänzen. Folglich haben die verschiedenen Räume, die in diesem Stück "durchquert" werden, sehr ausgeprägte Eigenschaften und verweisen manchmal direkt auf ganz bestimmte Arten von Räumen (städtisch, überwacht, Wüste, metallisch, "andere"...). Die Konfiguration eines Raumes hat für diejenigen, die in ihm leben, eine ganze Reihe von Konsequenzen für ihr tägliches Leben und die Organisation ihres sozialen Lebens. Wir können davon ausgehen, dass ihre Beziehung zur Welt durch die Konfiguration der Räume, in denen sie leben – ob aufgezwungen oder nicht –, bestimmt wird.

Diese Überlegungen haben sowohl die kompositorische Arbeit, als auch eine gewisse Textmontage angeregt, und, der Natur der Dinge entsprechend, bestimmte Resonanzen hervorgerufen. Das Stück beginnt mit einigen Auszügen aus Becketts Kurzgeschichte The Lost Ones, die einen geschlossenen Raum beschreibt, in dem sich eine ganze Gesellschaft organisiert (und desorganisiert), um einen Ausweg zu finden. Später wird Michel Foucaults Von anderen Räumen: Utopien und Heterotopien herangezogen. Der Philosoph beschreibt das, was er "Heterotopien" nennt – Gegenräume, die als konkrete Utopien gedacht sind, die innerhalb der normierten Räume unserer Gesellschaften existieren und deren Funktion unter anderem darin besteht, sie zu neutralisieren.

Im Lichte dieser Heterotopien wollte ich eine Auswahl von Auszügen aus Donna Haraways Cyborg-Manifest platzieren, das zu einem wesentlichen Text innerhalb der Geschlechterforschung geworden ist. Haraway argumentiert "für den Cyborg als eine Fiktion, die unsere soziale und körperliche Realität abbildet" und für eine Gesellschaft, die frei von Geschlechterkategorien ist. Die hybride Gestalt des Cyborg macht die ontologischen Kategorien, die sie schafft, bedeutungslos, indem sie die Unterscheidungen zwischen Mensch und Tier, zwischen Organismus und Maschine, zwischen Mann und Frau unterwandert.

Für Haraway haben "in der westlichen Vorstellung immer Monster die Grenzen der Gemeinschaft definiert. Die Zentauren und Amazonen des antiken Griechenlands definierten die Grenzen der zentralen Polis des griechischen Mannes, indem sie die Ehe bedrohten und die Abgrenzung des Kriegers zum Animalischen und zum Weiblichen verwischten." Vor diesem Hintergrund wollte ich – durch unmittelbare Nähe und durch die Anrufung eines meiner "Gefährten" ("Er, dessen Gesicht, Körper und Gewohnheiten noch nicht als wahr angesehen werden können") – Paul B. Preciado und sein Buch Je suis un monstre qui vous parle (Ich bin ein Ungeheuer, das zu dir spricht) heraufbeschwören.

So können die Räume, aus denen Heterotopien entstehen, zuweilen auch ihren Bewohnern dabei zusehen, wie diese zu heterotopischen Körpern werden.

Die verstärkte Stimme der Sopranistin ist fesselnd; die Beziehungen zwischen Tonhöhe, Klangfarbe oder Rhythmus haben nichts mehr mit kategorialen Grenzen zu tun; die Fremdheit wird zur schützenden Gestalt.

English

For several years I have been working with the idea of compositional space. For each piece I compose, I use topological structures in which I wander, in order to imagine and build the form as well as the different trajectories which will constitute it.

For this piece, I wanted to augment this approach with a more general reflection on the notion of space. Consequently, the different spaces that will be "traversed" in this piece have very marked characteristics, and sometimes make direct reference to very particular types of spaces (urban, controlled, desert, metallic, "other"…). The configuration of a space implies, for those who live there, a whole set of consequences for their daily life and the organization of their social life. We can consider that their relationship to the world is controlled by the configuration of the spaces – whether imposed or not – in which they live.

These considerations have both innervated the compositional work and involved a certain montage of texts and, by the nature of things, certain resonances. The piece opens with a few excerpts from Beckett’s The Lost Ones, which describes an enclosed space in which a whole society organizes (and disorganizes) itself in order to find a way out. Later, Michel Foucault’s Of Other Spaces: Utopias and Heterotopias is summoned. The philosopher describes what he calls "heterotopias" – counterspaces thought to be concrete utopias that exist within the normalized spaces of our societies and whose function is, among other things, to neutralize them.

In light of these heterotopias, I wanted to place a selection of excerpts from Donna Haraway’s Cyborg Manifesto, which has become an essential text within gender studies. Haraway is "making an argument for the cyborg as a fiction mapping our social and bodily reality" and for a society free of gender categories. The hybrid figure of the cyborg, by undermining the distinctions between human and animal, between organism and machine, between man and woman, renders the ontological categories it creates meaningless.

For Haraway, "monsters have always defined the limits of community in Western imaginations. The Centaurs and Amazons of ancient Greece established the limits of the centered polis of the Greek male human by their disruption of marriage and boundary pollutions of the warrior with animality and woman". With this in mind, I wanted to evoke – by direct proximity and by calling upon one of my "fellow men" ("He whose face, body and practices cannot yet be considered true") – Paul B. Preciado and his book Je suis un monstre qui vous parle (I am a monster talking to you).

Thus, the spaces from which heterotopias emerge also sometimes see their inhabitants become heterotopic bodies.

The soprano’s amplified voice is intriguing; the relationships between pitch, timbre or rhythm no longer have anything to do with categorical boundaries; strangeness becomes a tutelary figure.

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Autor/in
SWR